Gespräche für Freimaurer | Page 4

Gotthold Ephraim Lessing
der Welt nur einen Staat ausmachen?
ERNST
Wohl schwerlich. Ein so ungeheurer Staat würde keiner Verwaltung f?hig sein. Er müsste sich also in mehrere kleine Staaten verteilen, die alle nach den namlichen Gesetzen verwaltet würden.
FALK
Das ist: die Menschen würden auch dann noch Deutsche und Franzosen, Holl?nder und Spanier, Russen und Schweden sein, oder wie sie sonst heissen würden.
ERNST
Ganz gewiss!
FALK
Nun, da haben wir ja schon eines. Denn nicht wahr, jeder dieser kleinern Staaten h?tte sein eignes Interesse? und jedes Glied derselben h?tte das Interesse seines Staats?
ERNST
Wie anders?
FALK
Diese verschiedene Interesse würden ?fters in Kolision kommen, so wie itzt: und zwei Glieder aus zwei verschiedenen Staaten würden einander ebensowenig mit unbefangenem Gemüt begegnen k?nnen, als itzt ein Deutscher einem Franzose, ein Franzose einem Engl?nder begegnet.
ERNST
Seht wahrscheinlich!
FALK
Das ist: wenn itzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engl?nder oder umgekehrt begegnet, so begegnet nicht mehr ein blosser Mensch einem blossen Menschen die verm?ge ihrer gleichen Natur gegeneinander angezogen werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiednen Tendenz sich bewusst sind, welches sie gegeneinander kalt, zurückhaltend, misstrauisch macht, noch ehe sie führ ihre einzelne Person das geringste miteinander zu schaffen und zu teilen haben.
ERNST
Das ist leider wahr.
FALK
Nun, so ist es denn auch wahr, dass das Mittel, welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Vereinigung ihres Glückes zu versichern, die Menschen zugleich trennet.
ERNST
Wenn du es so verstehest.
FALK
Tritt einen Schritt weiter. Viele von den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben. Meinst du nicht?
ERNST
Das ist ein gewaltiger Schritt!
FALK
Die Menschen würden auch dann noch Juden und Christen und Türken und dergleichen sein.
ERNST
Ich getraue mir nicht nein zu sagen.
FALK
Würden sie das, so würden sie auch, sie m?chten heissen, wie sie wollten, sich untereinander nicht anders verhalten, als sich unsere Christen und Juden und Türken von jeher untereinander verhalten haben. Nicht als blosse Menschen gegen blosse Menschen, sondern als solche Menschen gegen solche Menschen, die sich einen gewissen geistigen Vorzug streitig machen und darauf Rechte gründen, die dem natürlichen Menschen nimmermehr einfallen k?nnten.
ERNST
Das ist sehr traurig, aber leider doch sehr vermutlich.
FALK
Nur vermutlich?
ERNST
Denn allenfalls d?chte ich doch, so wie du angenommen hast, das alle Staaten einerlei Verfassung h?tten, dass sie auch wohl eine einerlei Religion haben k?nnten. Ja, ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei Religion auch nur m?glich ist.
FALK
Ich ebensowenig.--Auch nahm ich jenes nur an, um deine Ausflucht abzuschneiden. Eines ist zuverl?ssig ebenso unm?glich als das andere. Ein Staat: mehrere Staaten. Mehrere Staaten: mehrere?Staatverfassungen. Mehrere Staatverfassungen: mehrere Religionen.
ERNST
Ja, ja, so scheint es.
FALK
So ist es.--Nun sieh da das zweite Unheil, welches die bürgerliche Gesellschaft, ganz ihrer Absicht entgegen, verursacht. Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hinzuziehen.
ERNST
Und wie schrecklich diese Klüfte sind! wie unübersteiglich oft diese Scheidemauern!
FALK
Lass mich noch das dritte hinzufügen. Nicht genug, dass die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene V?lker und Religionen teilet und trennet.--Diese Trennung in wenige grosse Teile, deren jeder für sich ein Ganzes w?re, w?re doch immer noch besser als gar kein Ganzes. Nein, die bürgerliche Gesellschaft setzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins Unendliche fort.
ERNST
Wieso?
FALK
Oder meinest du, dass ein Staat sich ohne Verscheidenheit von St?nden denken l?sst? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weiniger nahe: unm?glich k?nnen alle Glieder desselben unter sich das n?mliche Verh?ltnis haben.--Wenn sie auch alle an der Gestzgebung Anteil haben, so k?nnen sie doch nict gleichen Anteil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Anteil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben.--Wenn anfangs auch alle Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilet worden, so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter bestehen. Einer wird sein Eigentum besser zu nutzen wissen als der andere. Einer wird sein schlechter genutztes Eigentum gleichwohl unter mehrere Nachkommen zu verteilen haben als der andere. Es wird also reichere und ?rmere Glieder geben.
ERNST
Das versteht sich.
FALK
Nun überlege, wieviel Uebel es in der Welt wohl gibt, das in dieser Verschiedenheit der St?nde seinen Grund nicht hat.
ERNST
Wenn ich dir doch widersprechen k?nnte!--Aber was hatte ich für Ursache, dir überhaupt zu widersprechen?--Nun ja, die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! nur durch unaufh?rliche Trennung in Vereinigung zu erhalten! Das ist nun einmal so. Das kann nun nicht anders sein.
FALK
Das sage ich eben!
ERNST
Also, was willst du damit? Mir das bürgerliche Leben dadurch verleiden? Mich wünschen machen, dass den Menschen der Gedanke, sich in Staaten zu vereinigen, nie m?ge gekommen sein?
FALK
Verkennst du mich so weit?--Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute h?tte, dass allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann: ich würde sie auch bei weit gr?ssern Uebeln noch segnen.
ERNST
Wer des Feuers geniessen will, sagt das Sprichwort, muss sich den Rauch gefallen lassen.
FALK
Allerdings!--Aber weil der Rauch bei dem Feuer unvermeidlich ist:
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