Gesammelte Abhandlungen III | Page 2

Ernst Abbe
bezeichnenderweise wieder »für alle Zeiten« auf den Namen seines
Freundes CARL ZEISS getauft -- den beiden hiesigen Betrieben gab,
ist die markanteste Bekundung seiner sittlichen Eigenart. Ich habe unter
dem frischen Eindruck seines Todes in meiner Gedenkrede bei der
Trauerfeier für ihn einen schwachen Versuch gemacht[1];, sie zu
kennzeichnen, ohne sie entfernt erschöpfen zu wollen und zu können.
Das »sozialpolitische System« ERNST ABBES hat einer seiner
Kollegen von der thüringischen Hochschule, dem er im politischen
Kampfe oft genug schroff gegenüberstand, für den er aber durch diese

Gegnerschaft menschlich nicht das mindeste an Bedeutung und Größe
eingebüßt hatte, der Sprachforscher B. DELBRÜCK, in dem Nachruf
zusammenzufassen gesucht, den er dem Dahingegangenen in der
Staatswissenschaftlichen Gesellschaft zu Jena gewidmet hat: »Es
kommt in der Gesellschaft nur an auf die Förderung der
Gesamtinteressen; das Glück des einzelnen aber ist gleichgültig.« An
dasjenige, was die Gesellschaft zu verteilen hat, hat nur der Anspruch,
der arbeitet, und die Verteilung ist nicht anders zu regeln als nach den
Gesichtspunkten strengster Gerechtigkeit ohne irgend eine historisch
oder sonst begründete Bevorzugung. Diese völlige Ablehnung jedes
Eudämonismus gehörte aber nicht etwa bloß dem System an, sondern
zeigte sich ebenso in ABBES Leben. System und Leben war bei ihm
aus einem Guß. Daß es auf das sogenannte Glück des einzelnen nicht
ankommt, hat er aufs großartigste erwiesen in seiner eigenen Person. Es
hat ja oft Männer gegeben, die ihre Reichtümer wegwarfen und sich
nach einem Leben voll Taten und Sünden in Klöster oder Wälder
zurückzogen; aber daß jemand in der vollen Kraft seines Daseins und
Wirkens auf sein Erworbenes in der Weise verzichtet, wie ERNST
ABBE, das ist gewiß etwas sehr Seltenes. Was er so an sich selbst zur
Darstellung brachte, wünschte er natürlich auch von anderen, wie an
einem Beispiel statt vieler gezeigt sein mag. Er hatte einen
Lieblingsgedanken, der ihm aber schließlich von anderen ausgeredet
wurde, nämlich eine Stiftung ins Leben zu rufen für Söhne der
handarbeitenden Klasse, um denselben die Möglichkeit zu geben, in
höhere Stellungen im Staate aufzusteigen. Damit wollte er aber, wie er
ausdrücklich bemerkte, nicht etwa das Glück des einzelnen erhöhen --
er nahm vielmehr an, daß unter Umständen das Gegenteil eintreten
könne, indem mancher sich vielleicht in der neuen Stellung unglücklich
fühlen würde: aber ABBE meinte, das Aufsteigen in höhere Schichten
sei im allgemeinen Interesse notwendig, und so liege hier für den
einzelnen ein Stück der allgemeinen Dienstpflicht vor, die wir alle der
Gesellschaft schuldig sind.
»Wenn man sich so recht die Eigentümlichkeiten dieses ABBE-schen
Systems klar machen will, muß man es vergleichen mit den großartigen
Wohltätigkeitsanstalten der katholischen Kirche. Während dort die
erbarmende Menschenliebe, die Caritas, die Grundlage bildet, ist diese

Vorstellung bei ABBE vollständig ausgeschaltet. Ein jeder soll das
bekommen, worauf er Anspruch hat, nicht mehr und nicht weniger.
ABBE wünschte sogar, wo es nur irgend möglich war, einen klagbaren
Anspruch für den einzelnen an die Gesellschaft. Will man Stellung zu
diesem System nehmen, so kann es nicht geschehen, indem man
Einzelheiten herausgreift, sondern man muß das Ganze ins Auge fassen
und seinen Standpunkt auf der reinen Höhe philosophischer
Betrachtung wählen.«
Es ist wohl bezeichnend genug für die sozialpolitischen
Veröffentlichungen ERNST ABBES, wie vor allem für den Mann
selber, daß die erste, die er der Mühe der Drucklegung für wert
erachtete, von ihm im Alter von 54 Jahren verfaßt wurde, also zu einer
Zeit, wo er in seinem beruflichen Wirken auf der Höhe des Erfolges
stand und wo er den entscheidenden Schritt zu seiner sozialpolitischen
Neuschöpfung auch schon getan hatte. So bedeutet denn die der Zeit
nach zweite »Publikation« (in der vorliegenden Sammlung unter IX
abgedruckt) kein Theoretisieren mehr, sondern sie ist der Ausdruck
einer Tat: der Gründung der Carl Zeiss-Stiftung, deren »Verfassung«
sie enthält. Alle übrigen hier gesammelten Schriften, Vorträge und
Reden sind ebenso wie die genannten Gelegenheitserzeugnisse -- mit
allen Vorzügen und Mängeln solcher behaftet. Einige, wie außer den
oben erwähnten Vorträgen »Welche sozialen Forderungen soll die
Freisinnige Volkspartei in ihr Programm aufnehmen« (Nr. I), die
schöne »Gedächtnisrede zur Feier des 50jährigen Bestehens der
Optischen Werkstätte« (Nr. II), der Vortrag »Über Gewinnbeteiligung
der Arbeiter in der Großindustrie« (Nr. III), dann aber auch Nr. V (Zur
Frage der Sonderbesteuerung des Konsumvereins) und Nr. VI (Die
rechtswidrige Beschränkung der Versammlungsfreiheit im
Großherzogtum Sachsen) sind sorgfältig redigiert und zum Teil auch
direkt für die Drucklegung vorbereitet bezw. schon einmal unter
Aufsicht des Verfassers gedruckt. Bei mehreren anderen fand sich ihm
zu sorgfältigerer Ausarbeitung nicht die nötige Muße und ich bin gewiß,
daß ERNST ABBE selbst nichts weniger als einverstanden gewesen
wäre mit ihrer Veröffentlichung in der vorliegenden Gestalt. Ich
glaubte aber, gerade diese Vorträge, die sich einerseits näher mit den
Verhältnissen im eigenen Betrieb befassen, andererseits bei der

Diskussion der dort bestehenden Verhältnisse interessante Schlaglichter
auf das werfen, was überall unter ähnlichen Umständen d. h. in
industriellen Großbetrieben gilt oder Gegenstand der Kontroverse ist,
nicht
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