welche verschiedne Art wir (- ich
sage höflicher Weise wir... ) das Problem des Irrthums und der
Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung,
den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als
Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute
umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns
zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein
anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt
zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei
uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders
als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei ihnen hat der
Irrthum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt.
Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der
rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes
Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der
Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein
bringen. Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als
Ursache überhaupt; das glaubt an's "Ich", an's Ich als Sein, an's Ich als
Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge -
es schafft erst damit den Begriff "Ding"... Das Sein wird überall als
Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception "Ich" folgt
erst, als abgeleitet, der Begriff "Sein"... Am Anfang steht das grosse
Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt, - dass
Wille ein Vermögen ist... Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist...
Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die
Sicherheit, die subjektive Gewissheit in der Handhabung der
Vemunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum
Bewusstsein: sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie
stammen könnten, - die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in
Widerspruch. Woher also stammen sie? - Und in Indien wie in
Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: "wir müssen
schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (- statt in
einer sehr viel niederen: was die Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen
göttlich gewesen sein, denn wir haben die Vernunft!"... In der That,
Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum
vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat
ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! - Auch die
Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres
Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand... Die
"Vernunft" in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische
Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an
die Grammatik glauben...
6.
Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue
Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das
Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.
Erster Satz. Die Gründe, darauf hin "diese" Welt als scheinbar
bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, - eine andre
Art Realität ist absolut unnachweisbar.
Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem "wahren Sein" der
Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht Seins, des Nichts, -
man hat die "wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt
aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine
moralisch-optische Täuschung ist.
Dritter Satz. Von einer "andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar
keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung,
Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im
letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines
"anderen", eines "besseren" Lebens.
Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine "wahre" und eine "scheinbare",
sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines
hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der
décadence, - ein Symptom niedergehenden Lebens... Dass der Künstler
den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen
diesen Satz. Denn "der Schein" bedeutet hier die Realität noch einmal,
nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur... Der tragische Künstler
ist kein Pessimist, - er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und
Furchtbaren selbst, er ist dionysisch...
Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde.
Geschichte eines Irrthums.
1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den
Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie.
(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend.
Umschreibung des Satzes "ich, Plato, bin die Wahrheit".)
2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den
Weisen, den Frommen, den Tugendhaften ("für den Sünder, der Busse
thut").
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, - sie
wird Weib, sie wird christlich... )
3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber
schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die
Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)
4. Die wahre Welt - unerreichbar? jedenfalls unerreicht. Und als
unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend,
verpflichtend:
Continue reading on your phone by scaning this QR Code
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.