Frau Bovary | Page 4

Gustave Flaubert

seine Geschichtshefte, oder er las in einem alten Exemplar von
Barthelemys »Reise des jungen Anacharsis«, das im Arbeitssaal
herumlag. Bei Ausflügen plauderte er mit dem Pedell, der ebenfalls
vom Lande war.
Durch seinen Fleiß gelang es ihm, sich immer in der Mitte der Klasse
zu halten; einmal errang er sich sogar einen Preis in der Naturkunde.
Aber gegen Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern vom
Gymnasium fort und ließen ihn Medizin studieren. Sie waren der festen
Zuversicht, daß er sich bis zum Staatsexamen schon durchwürgen
würde.
Die Mutter mietete ihm ein Stübchen, vier Stock hoch, nach der
Eau-de-Robec zu gelegen, im Hause eines Färbers, eines alten
Bekannten von ihr. Sie traf Vereinbarungen über die Verpflegung ihres
Sohnes, besorgte ein paar Möbelstücke, einen Tisch und zwei Stühle,
wozu sie von zu Hause noch eine Bettstelle aus Kirschbaumholz
kommen ließ. Des weiteren kaufte sie ein Kanonenöfchen und einen
kleinen Vorrat von Holz, damit ihr armer Junge nicht frieren sollte.
Acht Tage darnach reiste sie wieder heim, nachdem sie ihn tausend-
und abertausendmal ermahnt hatte, ja hübsch fleißig und solid zu
bleiben, sintemal er nun ganz allein auf sich selbst angewiesen sei.
Vor dem Verzeichnis der Vorlesungen auf dem schwarzen Brette der
medizinischen Hochschule vergingen dem neubackenen Studenten
Augen und Ohren. Er las da von anatomischen und pathologischen
Kursen, von Kollegien über Physiologie, Pharmazie, Chemie, Botanik,
Therapeutik und Hygiene, von Kursen in der Klinik, von praktischen
Übungen usw. Alle diese vielen Namen, über deren Herkunft er sich

nicht einmal klar war, standen so recht vor ihm wie geheimnisvolle
Pforten in das Heiligtum der Wissenschaft.
Er lernte gar nichts. So aufmerksam er auch in den Vorlesungen war, er
begriff nichts. Um so mehr büffelte er. Er schrieb fleißig nach,
versäumte kein Kolleg und fehlte in keiner Übung. Er erfüllte sein
tägliches Arbeitspensum wie ein Gaul im Hippodrom, der in einem fort
den Hufschlag hintrottet, ohne zu wissen, was für ein Geschäft er
eigentlich verrichtet.
Zu seiner pekuniären Unterstützung schickte ihm seine Mutter
allwöchentlich durch den Botenmann ein Stück Kalbsbraten. Das war
sein Frühstück, wenn er aus dem Krankenhause auf einen Husch nach
Hause kam. Sich erst hinzusetzen, dazu langte die Zeit nicht, denn er
mußte alsbald wieder in ein Kolleg oder zur Anatomie oder Klinik
eilen, durch eine Unmenge von Straßen hindurch. Abends nahm er an
der kargen Hauptmahlzeit seiner Wirtsleute teil. Hinterher ging er
hinauf in seine Stube und setzte sich an seine Lehrbücher, oft in nassen
Kleidern, die ihm dann am Leibe bei der Rotglut des kleinen Ofens zu
dampfen begannen.
An schönen Sommerabenden, wenn die schwülen Gassen leer wurden
und die Dienstmädchen vor den Haustüren Ball spielten, öffnete er sein
Fenster und sah hinaus. Unten floß der Fluß vorüber, der aus diesem
Viertel von Rouen ein häßliches Klein-Venedig machte. Seine gelben,
violett und blau schimmernden Wasser krochen träg zu den Wehren
und Brücken. Arbeiter kauerten am Ufer und wuschen sich die Arme in
der Flut. An Stangen, die aus Speichergiebeln lang hervorragten,
trockneten Bündel von Baumwolle in der Luft. Gegenüber, hinter den
Dächern, leuchtete der weite klare Himmel mit der sinkenden roten
Sonne. Wie herrlich mußte es da draußen im Freien sein! Und dort im
Buchenwald wie frisch! Karl holte tief Atem, um den köstlichen Duft
der Felder einzusaugen, der doch gar nicht bis zu ihm drang.
Er magerte ab und sah sehr schmächtig aus. Sein Gesicht bekam einen
leidvollen Zug, der es beinahe interessant machte. Er ward träge, was
gar nicht zu verwundern war, und seinen guten Vorsätzen mehr und
mehr untreu. Heute versäumte er die Klinik, morgen ein Kolleg, und
allmählich fand er Genuß am Faulenzen und ging gar nicht mehr hin.
Er wurde Stammgast in einer Winkelkneipe und ein passionierter
Dominospieler. Alle Abende in einer schmutzigen Spelunke zu hocken

und mit den beinernen Spielsteinen auf einem Marmortische zu
klappern, das dünkte ihn der höchste Grad von Freiheit zu sein, und das
stärkte ihm sein Selbstbewußtsein. Es war ihm das so etwas wie der
Anfang eines weltmännischen Lebens, dieses Kosten verbotener
Freuden. Wenn er hinkam, legte er seine Hand mit geradezu sinnlichem
Vergnügen auf die Türklinke. Eine Menge Dinge, die bis dahin in ihm
unterdrückt worden waren, gewannen nunmehr Leben und Gestalt. Er
lernte Gassenhauer auswendig, die er gelegentlich zum besten gab.
Béranger, der Freiheitssänger, begeisterte ihn. Er lernte eine gute
Bowle brauen, und zu guter Letzt entdeckte er die Liebe. Dank diesen
Vorbereitungen fiel er im medizinischen Staatsexamen glänzend durch.
Man erwartete ihn am nämlichen Abend zu Haus, wo sein Erfolg bei
einem Schmaus gefeiert werden sollte. Er machte sich zu Fuß auf den
Weg und erreichte gegen Abend seine Heimat. Dort ließ er seine
Mutter an den Dorfeingang bitten und beichtete ihr alles. Sie
entschuldigte ihn, schob den Mißerfolg der Ungerechtigkeit der
Examinatoren in die Schuhe und richtete ihn ein wenig auf, indem sie
ihm versprach, die
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