Einige Gedichte | Page 6

Friedrich von Schiller
Der Hierophant. "Kein
Sterblicher, sagt sie, Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe. Und
wer mit ungeweihter, schuldger Hand Den heiligen, verbotnen früher
hebt, Der, spricht die Gottheit--"--"Nun?"-- "Der sieht die Wahrheit."
"Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst, Du hättest also niemals ihn
gehoben?" "Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu
Versucht."--"Das fass ich nicht. Wenn von der Wahrheit Nur diese
dünne Scheidewand mich trennte--" "Und ein Gesetz", fällt ihm sein
Führer ein. "Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst, Ist dieser dünne
Flor--für deine Hand Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein
Gewissen."
Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause, Ihm raubt des Wissens
brennende Begier Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager
Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel Führt unfreiwillig ihn
der scheue Tritt. Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen, Und
mitten in das Innre der Rotonde Trägt ein beherzter Sprung den
Wagenden.
Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt Den Einsamen die lebenlose
Stille, Die nur der Tritte hohler Widerhall In den geheimen Grüften
unterbricht Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft Der Mond den
bleichen, silberblauen Schein, Und furchtbar wie ein gegenwärtger Gott
Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse In ihrem langen Schleier die
Gestalt.

Er tritt hinan mit ungewissem Schritt, Schon will die freche Hand das
Heilige berühren, Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein Und
stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme. Unglücklicher, was willst du tun?
So ruft In seinem Innern eine treue Stimme. Versuchen den Allheiligen
willst du? Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund, Rückt diesen
Schleier, bis ich selbst ihn hebe. Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:
Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen? "Sei hinter ihm, was
will! Ich heb ihn auf." (Er rufts mit lauter Stimm.) "Ich will sie
schauen." Schauen! Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.
Er sprichts und hat den Schleier aufgedeckt. Nun, fragt ihr, und was
zeigte sich ihm hier? Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich, So
fanden ihn am andern Tag die Priester Am Fußgestell der Isis
ausgestreckt. Was er allda gesehen und erfahren, Hat seine Zunge nie
bekannt. Auf ewig War seines Lebens Heiterkeit dahin, Ihn riß ein
tiefer Gram zum frühen Grabe. "Weh dem", dies war sein
warnungsvolles Wort, Wenn ungestüme Frager in ihn drangen, "Weh
dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld, Sie wird ihm
nimmermehr erfreulich sein."

Der Abend (Nach einem Gemälde)
Senke, strahlender Gott--die Fluren dürsten Nach erquickendem Tau,
der Mensch verschmachtet, Matter ziehen die Rosse-- Senke den
Wagen hinab!
Siehe, wer aus des Meers kristallner Woge Lieblich lächelnd dir winkt!
Erkennt dein Herz sie? Rascher fliegen die Rosse, Tethys, die göttliche,
winkt.
Schnell vom Wagen herab in ihre Arme Springt der Führer, den Zaum
ergreift Kupido, Stille halten die Rosse, Trinken die kühlende Flut.
An den Himmel herauf mit leisen Schritten Kommt die duftende Nacht;
ihr folgt die süße Liebe. Ruhet und liebet! Phöbus, der liebende, ruht.

Die Antiken zu Paris
Was der Griechen Kunst erschaffen, Mag der Franke mit den Waffen
Führen nach der Seine Strand, Und in prangenden Museen Zeig er
seine Siegstrophäen Dem erstaunten Vaterland!
Ewig werden sie ihm schweigen, Nie von den Gestellen steigen In des

Lebens frischen Reihn. Der allein besitzt die Musen, Der sie trägt im
warmen Busen, Dem Vandalen sind sie Stein.

Die schönste Erscheinung
Sahest du nie die Schönheit im Augenblick des Leidens, Niemals hast
du die Schönheit gesehn. Sahst du die Freude nie in einem schönen
Gesichte, Niemals hast du die Freude gesehn!

Die Weltweisen
Der Satz, durch welchen alles Ding Bestand und Form empfangen, Der
Kloben, woran Zeus den Ring Der Welt, die sonst in Scherben ging,
Vorsichtig aufgehangen, Den nenn ich einen großen Geist, Der mir
ergründet, wie er heißt, Wenn ich ihm nicht drauf helfe-- Er heißt: Zehn
ist nicht Zwölfe.
Der Schnee macht kalt, das Feuer brennt, Der Mensch geht auf zwei
Füßen, Die Sonne scheint am Firmament, Das kann, wer auch nicht
Logik kennt, Durch seine Sinne wissen. Doch wer Metaphysik studiert,
Der weiß, daß, wer verbrennt, nicht friert, Weiß, daß das Nasse feuchtet
Und daß das Helle leuchtet.
Homerus singt sein Hochgedicht, Der Held besteht Gefahren, Der brave
Mann tut seine Pflicht Und tat sie, ich verhehl es nicht, Eh noch
Weltweise waren; Doch hat Genie und Herz vollbracht, Was Lock' und
Des Cartes nie gedacht, Sogleich wird auch von diesen Die
Möglichkeit bewiesen.
Im Leben gilt der Stärke Recht, Dem Schwachen trotzt der Kühne, Wer
nicht gebieten kann, ist Knecht; Sonst geht es ganz erträglich schlecht
Auf dieser Erdenbühne. Doch wie es wäre, fing der Plan Der Welt nur
erst von vorne an, Ist in Moralsystemen Ausführlich zu vernehmen.
"Der Mensch bedarf des Menschen sehr Zu seinem großen Ziele, Nur
in dem Ganzen wirket er, Viel Tropfen geben erst das Meer, Viel
Wasser
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