Ein Landarzt | Page 9

Franz Kafka
es -- hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne
geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett
aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknieen
lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an
ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch
Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der
ganzen Zuschauerschaft seines Todes -- alle hindernden Wände werden
niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden
Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs -- vor allen diesen
hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg
gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal
den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge;
findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne
ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge
ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies
Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche
Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos
müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des
innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm
dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen;
und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu
durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast;
und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter
durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor --
aber niemals, niemals kann es geschehen -- liegt erst die Residenzstadt
vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes.
Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. -- Du
aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend
kommt.

Die Sorge des Hausvaters.

Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und
sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen.
Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom
Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen
aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal
man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn
es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst
aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es
auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte,
aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von
verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule,
sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen
hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch
eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und
einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das
Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine
zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint
aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür;
nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas
Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in
seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber
sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.
Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den
Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist
er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich
wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt
und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn
anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen,
sondern behandelt ihn -- schon seine Winzigkeit verführt dazu -- wie
ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek,« sagt er.
»Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz,« sagt er und lacht; es
ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann.

Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist
die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten
nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu
sein scheint.
Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn
sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit
gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu.
Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und
Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe
hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die
Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast
schmerzliche.
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