Ein Landarzt | Page 8

Franz Kafka

Ein Fünfter, vielleicht der oberste im Rang, duldet keine Begleitung; ist
bald vorn, bald hinten; die Gesellschaft richtet ihren Schritt nach ihm;
er ist bleich und schwach; die Verantwortung hat seine Augen
ausgehöhlt; oft drückt er im Nachdenken die Hand an die Stirn.
Der Sechste und Siebente gehen ein wenig gebückt, Kopf nah an Kopf,
Arm in Arm, in vertrautem Gespräch; wäre hier nicht offenbar unser
Kohlenbergwerk und unser Arbeitsplatz im tiefsten Stollen, könnte
man glauben, diese knochigen, bartlosen, knollennasigen Herren seien
junge Geistliche. Der eine lacht meistens mit katzenartigem Schnurren
in sich hinein; der andere, gleichfalls lächelnd, führt das Wort und gibt
mit der freien Hand irgendeinen Takt dazu. Wie sicher müssen diese
zwei Herren ihrer Stellung sein, ja welche Verdienste müssen sie sich
trotz ihrer Jugend um unser Bergwerk schon erworben haben, daß sie

hier, bei einer so wichtigen Begehung, unter den Augen ihres Chefs,
nur mit eigenen oder wenigstens mit solchen Angelegenheiten, die
nicht mit der augenblicklichen Aufgabe zusammenhängen, so
unbeirrbar sich beschäftigen dürfen. Oder sollte es möglich sein, daß
sie, trotz alles Lachens und aller Unaufmerksamkeit, das, was nötig ist,
sehr wohl bemerken? Man wagt über solche Herren kaum ein
bestimmtes Urteil abzugeben.
Andererseits ist es aber doch wieder zweifellos, daß zum Beispiel der
Achte unvergleichlich mehr als diese, ja mehr als alle anderen Herren
bei der Sache ist. Er muß alles anfassen und mit einem kleinen
Hammer, den er immer wieder aus der Tasche zieht und immer wieder
dort verwahrt, beklopfen. Manchmal kniet er trotz seiner eleganten
Kleidung in den Schmutz nieder und beklopft den Boden, dann wieder
nur im Gehen die Wände oder die Decke über seinem Kopf. Einmal hat
er sich lang hingelegt und lag dort still; wir dachten schon, es sei ein
Unglück geschehen; aber dann sprang er mit einem kleinen
Zusammenzucken seines schlanken Körpers auf. Er hatte also wieder
nur eine Untersuchung gemacht. Wir glauben unser Bergwerk und
seine Steine zu kennen, aber was dieser Ingenieur auf diese Weise hier
immerfort untersucht, ist uns unverständlich.
Ein Neunter schiebt vor sich eine Art Kinderwagen, in welchem die
Meßapparate liegen. Äußerst kostbare Apparate, tief in zarteste Watte
eingelegt. Diesen Wagen sollte ja eigentlich der Diener schieben, aber
es wird ihm nicht anvertraut; ein Ingenieur mußte heran und er tut es
gern, wie man sieht. Er ist wohl der Jüngste, vielleicht versteht er noch
gar nicht alle Apparate, aber sein Blick ruht immerfort auf ihnen, fast
kommt er dadurch manchmal in Gefahr, mit dem Wagen an eine Wand
zu stoßen.
Aber da ist ein anderer Ingenieur, der neben dem Wagen hergeht und es
verhindert. Dieser versteht offenbar die Apparate von Grund aus und
scheint ihr eigentlicher Verwahrer zu sein. Von Zeit zu Zeit nimmt er,
ohne den Wagen anzuhalten, einen Bestandteil der Apparate heraus,
blickt hindurch, schraubt auf oder zu, schüttelt und beklopft, hält ans
Ohr und horcht; und legt schließlich, während der Wagenführer meist

stillsteht, das kleine, von der Ferne kaum sichtbare Ding mit aller
Vorsicht wieder in den Wagen. Ein wenig herrschsüchtig ist dieser
Ingenieur, aber doch nur im Namen der Apparate. Zehn Schritte vor
dem Wagen sollen wir schon, auf ein wortloses Fingerzeichen hin, zur
Seite weichen, selbst dort, wo kein Platz zum Ausweichen ist.
Hinter diesen zwei Herren geht der unbeschäftigte Diener. Die Herren
haben, wie es bei ihrem großen Wissen selbstverständlich ist, längst
jeden Hochmut abgelegt, der Diener dagegen scheint ihn in sich
aufgesammelt zu haben. Die eine Hand im Rücken, mit der anderen
vorn über seine vergoldeten Knöpfe oder das feine Tuch seines
Livreerockes streichend, nickt er öfters nach rechts und links, so als ob
wir gegrüßt hätten und er antwortete, oder so, als nehme er an, daß wir
gegrüßt hätten, könne es aber von seiner Höhe aus nicht nachprüfen.
Natürlich grüßen wir ihn nicht, aber doch möchte man bei seinem
Anblick fast glauben, es sei etwas Ungeheures, Kanzleidiener der
Bergdirektion zu sein. Hinter ihm lachen wir allerdings, aber da auch
ein Donnerschlag ihn nicht veranlassen könnte, sich umzudrehen, bleibt
er doch als etwas Unverständliches in unserer Achtung.
Heute wird wenig mehr gearbeitet; die Unterbrechung war zu ausgiebig;
ein solcher Besuch nimmt alle Gedanken an Arbeit mit sich fort. Allzu
verlockend ist es, den Herren in das Dunkel des Probestollens
nachzublicken, in dem sie alle verschwunden sind. Auch geht unsere
Arbeitsschicht bald zu Ende; wir werden die Rückkehr der Herren nicht
mehr mit ansehen.

Das nächste Dorf.
Mein Großvater pflegte zu sagen: »Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt
in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum
Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann
ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß -- von unglücklichen
Zufällen ganz abgesehen -- schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich
ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.«

Eine kaiserliche Botschaft.
Der Kaiser -- so heißt
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