Ein Landarzt | Page 6

Franz Kafka
aus der Türe des
Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode
sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu
einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er
winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten
kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der
Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert.
»Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist
unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Gesetz,« sagt der Mann,
»wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß
verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem
Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er
ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser
Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

Schakale und Araber.
Wir lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber, hoch
und weiß, kam an mir vorüber; er hatte die Kamele versorgt und ging
zum Schlafplatz.
Ich warf mich rücklings ins Gras; ich wollte schlafen; ich konnte nicht;
das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich saß wieder aufrecht.
Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. Ein Gewimmel von
Schakalen um mich her; in mattem Gold erglänzende, verlöschende
Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetzmäßig und flink
bewegt.
Einer kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem Arm durch, eng
an mich, als brauche er meine Wärme, trat dann vor mich und sprach,
fast Aug in Aug mit mir:
»Ich bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich bin glücklich, dich
noch hier begrüßen zu können. Ich hatte schon die Hoffnung fast
aufgegeben, denn wir warten unendlich lange auf dich; meine Mutter
hat gewartet und ihre Mutter und weiter alle ihre Mütter bis hinauf zur
Mutter aller Schakale. Glaube es!«
»Das wundert mich,« sagte ich und vergaß, den Holzstoß anzuzünden,
der bereit lag, um mit seinem Rauch die Schakale abzuhalten, »das
wundert mich sehr zu hören. Nur zufällig komme ich aus dem hohen
Norden und bin auf einer kurzen Reise begriffen. Was wollt Ihr denn,
Schakale?«
Und wie ermutigt durch diesen vielleicht allzu freundlichen Zuspruch
zogen sie ihren Kreis enger um mich; alle atmeten kurz und fauchend.
»Wir wissen,« begann der Älteste, »daß du vom Norden kommst,
darauf eben baut sich unsere Hoffnung. Dort ist der Verstand, der hier
unter den Arabern nicht zu finden ist. Aus diesem kalten Hochmut,
weißt du, ist kein Funken Verstand zu schlagen. Sie töten Tiere, um sie
zu fressen, und Aas mißachten sie.«

»Rede nicht so laut,« sagte ich, »es schlafen Araber in der Nähe.«
»Du bist wirklich ein Fremder,« sagte der Schakal, »sonst wüßtest du,
daß noch niemals in der Weltgeschichte ein Schakal einen Araber
gefürchtet hat. Fürchten sollten wir sie? Ist es nicht Unglück genug,
daß wir unter solches Volk verstoßen sind?«
»Mag sein, mag sein,« sagte ich, »ich maße mir kein Urteil an in
Dingen, die mir so fern liegen; es scheint ein sehr alter Streit; liegt also
wohl im Blut; wird also vielleicht erst mit dem Blute enden.«
»Du bist sehr klug,« sagte der alte Schakal; und alle atmeten noch
schneller; mit gehetzten Lungen, trotzdem sie doch stillestanden; ein
bitterer, zeitweilig nur mit zusammengeklemmten Zähnen erträglicher
Geruch entströmte den offenen Mäulern, »du bist sehr klug; das, was
du sagst, entspricht unserer alten Lehre. Wir nehmen ihnen also ihr
Blut und der Streit ist zu Ende.«
»Oh!« sagte ich wilder, als ich wollte, »sie werden sich wehren; sie
werden mit ihren Flinten euch rudelweise niederschießen.«
»Du mißverstehst uns,« sagte er, »nach Menschenart, die sich also auch
im hohen Norden nicht verliert. Wir werden sie doch nicht töten. Soviel
Wasser hätte der Nil nicht, um uns rein zu waschen. Wir laufen doch
schon vor dem bloßen Anblick ihres lebenden Leibes weg, in reinere
Luft, in die Wüste, die deshalb unsere Heimat ist.«
Und alle Schakale ringsum, zu denen inzwischen noch viele von
fernher gekommen waren, senkten die Köpfe zwischen die Vorderbeine
und putzten sie mit den Pfoten; es war, als wollten sie einen
Widerwillen verbergen, der so schrecklich war, daß ich am liebsten mit
einem hohen Sprung aus ihrem Kreis entflohen wäre.
»Was beabsichtigt Ihr also zu tun,« fragte ich und wollte aufstehn; aber
ich konnte nicht; zwei junge Tiere hatten sich mir hinten in Rock und
Hemd festgebissen; ich mußte sitzen bleiben. »Sie halten deine
Schleppe,« sagte der alte Schakal erklärend und ernsthaft, »eine
Ehrbezeugung.« »Sie sollen mich loslassen!« rief ich, bald zum Alten,

bald zu den Jungen gewendet. »Sie werden es natürlich,« sagte der Alte,
»wenn du es verlangst. Es dauert aber ein Weilchen, denn sie haben
nach der Sitte tief sich eingebissen und müssen erst langsam die
Gebisse voneinander lösen. Inzwischen höre unsere Bitte.« »Euer
Verhalten hat mich
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