Ein Landarzt | Page 4

Franz Kafka
Ballen in den Wagen;
der Pelz flog zu weit, nur mit einem Ärmel hielt er sich an einem
Haken fest. Gut genug. Ich schwang mich aufs Pferd. Die Riemen lose
schleifend, ein Pferd kaum mit dem andern verbunden, der Wagen
irrend hinterher, der Pelz als letzter im Schnee. »Munter!« sagte ich,
aber munter ging's nicht; langsam wie alte Männer zogen wir durch die

Schneewüste; lange klang hinter uns der neue, aber irrtümliche Gesang
der Kinder:
»Freuet Euch, Ihr Patienten, Der Arzt ist Euch ins Bett gelegt!«
Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende Praxis ist verloren;
ein Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich
nicht ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist
sein Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste dieses
unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen,
unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz
hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner
aus dem beweglichen Gesindel der Patienten rührt den Finger.
Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt --
es ist niemals gutzumachen.

Auf der Galerie.
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der
Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum
vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne
Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde
schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn
dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und
der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft
sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden
Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind --
vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch
alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die
Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt,
zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen;
der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr
entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre
sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt

begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben;
schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde
mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen
Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit
englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden
Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem
großen Saltomortale das Orchester mit aufgehobenen Händen
beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden
Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des
Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt,
hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten
Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus
teilen will -- da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die
Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum
versinkend, weint er, ohne es zu wissen.

Ein altes Blatt.
Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres
Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind
unserer Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen
uns aber Sorgen.
Ich habe eine Schusterwerkstatt auf dem Platz vor dem kaiserlichen
Palast. Kaum öffne ich in der Morgendämmerung meinen Laden, sehe
ich schon die Eingänge aller hier einlaufenden Gassen von Bewaffneten
besetzt. Es sind aber nicht unsere Soldaten, sondern offenbar Nomaden
aus dem Norden. Auf eine mir unbegreifliche Weise sind sie bis in die
Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist.
Jedenfalls sind sie also da; es scheint, daß jeden Morgen mehr werden.
Ihrer Natur entsprechend lagern sie unter freiem Himmel, denn
Wohnhäuser verabscheuen sie. Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen
der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde. Aus
diesem stillen, immer ängstlich rein gehaltenen Platz haben sie einen
wahren Stall gemacht. Wir versuchen zwar manchmal aus unseren

Geschäften hervorzulaufen und wenigstens den ärgsten Unrat
wegzuschaffen, aber es geschieht immer seltener, denn die
Anstrengung ist nutzlos und bringt uns überdies in die Gefahr, unter die
wilden Pferde zu kommen oder von den Peitschen verletzt zu werden.
Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen
sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen
sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der
Dohlen. Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso
unbegreiflich wie gleichgültig. Infolgedessen zeigen sie sich auch
gegen jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer
verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben dich
doch nicht verstanden und werden dich nie verstehen. Oft machen sie
Grimassen; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt
aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch
erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. Was sie brauchen,
nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor
ihrem Zugriff tritt man
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