Ehstnische Märchen | Page 3

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und Glück, auf lange Zeit aber Kummer bereiten sollte. Ein
Kalew-Sproß,[4] eines Königs Sohn, war beim Verfolgen des Wildes
von seinen Gefährten abgekommen, und hatte sich im Walde so weit
verirrt, daß weder das Gebell der Hunde noch das Blasen der Hörner
ihm einen Wegweiser herbeischaffte. Alles Rufen fand nur sein eigenes
Echo,[5] oder fing sich im dichten Gestrüpp. Ermüdet und verdrießlich
stieg der königliche Jüngling endlich vom Pferde und warf sich nieder,
um im Schatten eines Gebüsches auszuruhen, während das Pferd sich
nach Gefallen auf dem Rasen sein Futter suchen durfte. Als der
Königssohn aus dem Schlaf erwachte, stand die Sonne schon niedrig.
Als er jetzt von neuem in die Kreuz und in die Quer nach dem Wege
suchte, entdeckte er endlich einen kleinen Fußsteig, der ihn zur Hütte
der lahmen Alten brachte. Wohl erschracken die Töchter, als sie
plötzlich den fremden Mann sahen, dessen Gleichen ihr Auge nie zuvor
erblickt hatte. Indeß hatten sie sich nach Vollendung ihres Tagewerks
in der Abendkühle mit dem Fremden befreundet, so daß sie gar nicht
einmal zur Ruhe gehen mochten. Und als endlich die älteren
Schwestern sich schlafen gelegt hatten, saß die jüngste noch mit dem
Gaste auf der Thürschwelle, und es kam ihnen diese Nacht kein Schlaf
in die Augen.
Während die Beiden im Angesicht des Mondes und der Sterne sich ihr
Herz öffnen und süße Gespräche führen, wollen wir uns nach den
Jägern umsehen, die ihren Anführer im Walde verloren hatten.
Unermüdlich war der ganze Wald nach allen Seiten hin von ihnen
durchsucht worden, bis das Dunkel der Nacht dem Suchen ein Ziel
setzte. Dann wurden zwei Männer in die Stadt zurückgeschickt, um die
traurige Botschaft zu überbringen, während die Uebrigen unter einer
breiten ästigen Fichte ihr Nachtlager aufschlugen, um am nächsten
Morgen wieder weiter zu suchen. Der König hatte gleich Befehl
gegeben, am andern Morgen ein Regiment zu Pferde und eins zu Fuß

ausrücken zu lassen, um seinen verlorenen Sohn aufzusuchen. Der
lange weite Wald dehnte die Nachforschungen bis zum dritten Tage aus;
dann erst wurden in der Frühe Fußstapfen gefunden, die man verfolgte
und dadurch den Fußsteig entdeckte, der zur Hütte führte. Dem
Königssohne war in Gesellschaft der Mädchen die Zeit nicht lang
geworden, noch weniger hatte er Sehnsucht nach Hause gehabt. Ehe er
schied, gelobte er der Jüngsten heimlich, daß er in kurzer Zeit
wiederkommen und dann, sei es im Guten oder mit Gewalt, sie mit sich
nehmen und zu seiner Gemahlin machen wolle. Wenn gleich die ältern
Schwestern von dieser Verabredung nichts gehört hatten, so kam die
Sache doch heraus und zwar in einer Weise, die Niemand vermuthet
hätte.
Nicht gering war nämlich der jüngsten Tochter Bestürzung, als sie,
nachdem der Königssohn fortgegangen war, sich an den Rocken setzte
und fand, daß der Faden in der Spule gerissen war. Zwar wurden die
Enden des Fadens im Kreuzknoten wieder zusammengeknüpft und das
Rad in rascheren Gang gebracht, damit emsige Arbeit die im Kosen mit
dem Bräutigam verlorene Zeit wieder einbrächte. Allein ein unerhörter
und unerklärlicher Umstand machte das Herz des Mädchens beben: das
Goldgarn hatte nicht mehr seinen vorigen Glanz. -- Da half kein
Scheuern, kein Seufzen und kein Benetzen mit Thränen; die Sache war
nicht wieder gut zu machen. Das Unglück springt zur Thür in's Haus,
kommt durch's Fenster herein und kriecht durch jede Ritze, die es
unverstopft findet, sagt ein altes weises Wort; so geschah es auch jetzt.
Die Alte war in der Nacht nach Hause gekommen. Als sie am Morgen
in die Stube trat, erkannte sie augenblicklich, daß hier etwas Unrechtes
vorgegangen sei. Ihr Herz entbrannte in Zorn; sie ließ die Töchter eine
nach der andern vor sich kommen und verlangte Rechenschaft. Mit
Leugnen und Ausreden kamen die Mädchen nicht weit, Lügen haben
kurze Beine; die schlaue Alte brachte bald heraus, was der Dorfhahn
hinter ihrem Rücken der jüngsten Tochter in's Ohr gekräht hatte. Das
alte Weib fing nun an so gräulich zu fluchen, als wollte sie Himmel und
Erde mit ihren Verwünschungen verfinstern. Zuletzt drohte sie, dem
Jüngling den Hals zu brechen und sein Fleisch den wilden Thieren zur
Speise vorzuwerfen, wenn er sich gelüsten ließe, noch einmal wieder

zu kommen. --Die jüngste Tochter wurde roth wie ein gesottener Krebs,
fand den ganzen Tag keine Ruhe und konnte auch die Nacht kein Auge
zuthun; immer lag es ihr schwer auf der Seele, daß der Jüngling, wenn
er zurück käme, seinen Tod finden könnte. Früh am Morgen, als die
Mutter und die Töchter noch im Morgenschlummer lagen, verließ sie
heimlich das Haus, um in der Thaueskühle aufzuathmen. Zum Glück
hatte sie als Kind von der Alten die Vogelsprache gelernt, und das kam
ihr jetzt zu Statten. In der Nähe saß auf einem Fichtenwipfel ein Rabe,
der mit dem Schnabel sein Gefieder zurechtzupfte. Das Mädchen rief.
»Lieber Lichtvogel, klügster des Vogelgeschlechts! willst du mir zu
Hülfe kommen?«
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