Ehstnische Märchen | Page 2

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sonst um die Literatur der Ehsten hochverdienten beiden Männern
Heinrich Neus in Reval und Friedrich Kreutzwald in Werro
mitgetheilten Märchen. Der letztere der beiden genannten Herren
erhielt auch von der finnischen Literaturgesellschaft in Helsingfors den
ehrenvollen Auftrag, eine umfassende Sammlung von ehstnischen
Märchen herauszugeben. Diese Sammlung, welche auf 368 Seiten 43
größere und 18 kleinere Stücke umfaßt, erschien im Jahre 1866 zu
Helsingfors im Verlage der Literaturgesellschaft mit Bewilligung der
letzteren und des Herrn Kreutzwald hat Herr Löwe, welcher sich
während seines Aufenthalts in Ehstland anerkennenswerthe Kenntnisse
der ehstnischen Sprache erworben hat, vorliegende Uebersetzung
unternommen, die sich durch sich selbst so sehr empfiehlt, daß eine
Empfehlung von meiner Seite überflüssig sein dürfte. Die Leser dieser
freundlichen Schöpfungen der Volkspoesie werden es nicht minder als
ich wünschen, daß baldigst eine Fortsetzung der Uebersetzung
erscheine.
Schließlich kann ich die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß in kurzer
Zeit die Veröffentlichung mehrerer durch die Herren Hurt und
Jakobson aus dem Volksmunde aufgezeichneter ehstnischer Märchen

in den Schriften der gelehrten ehstnischen Gesellschaft in Dorpat zu
erwarten ist.
St. Petersburg, den 8. (20.) Februar 1869.
A. Schiefner.

Inhalt.
Seite
1. Die Goldspinnerinnen 1-24
2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen 25-31
3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge 32-58
4. Der Tontlawald 59-76
5. Der Waise Handmühle 77-81
6. Die zwölf Töchter 82-91
7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand 92-101
8. Schlaukopf 102-121
9. Der Donnersohn 122-132
10. Pikne's Dudelsack 133-140
11. Der Zwerge Streit 141-147
12. Die Galgenmännlein 148-159
13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen 160-173
14. Der dankbare Königssohn 174-202

15. Rõugatajas Tochter 203-211
16. Die Meermaid 212-229
17. Die Unterirdischen 230-240
18. Der Nordlands-Drache 241-261
19. Das Glücksei 262-272
20. Der Frauenmörder 273-284
21. Der herzhafte Riegenaufseher 285-297
22. Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs 298-317
23. Dudelsack-Tiidu 318-340
24. Die aus dem Ei entsprossene Königstochter 341-355
Anmerkungen 356-365
Berichtigungen und Zusätze 366

1. Die Goldspinnerinnen.[1]
Ich will euch eine schöne Geschichte aus dem Erbe der Vorzeit
erzählen, welche sich zutrug, als noch die Anger nach alter Weise von
der Weisheit-Sprache der Vierfüßer und der Befiederten wiederhallten.
Es lebte einmal vor Zeiten in einem tiefen Walde eine lahme Alte mit
drei frischen Töchtern: ihre Hütte lag im Dickicht versteckt. Die
Töchter blühten schönen Blumen gleich um der Mutter verdorrten
Stumpf; besonders war die jüngste Schwester schön und zierlich wie
ein Bohnenschötchen. Aber in dieser Einsamkeit gab es keine andern
Beschauer als am Tage die Sonne, und bei Nacht den Mond und die
Augen der Sterne.

»Brennend heiß mit Jünglingsaugen Schien die Sonn' auf ihren
Kopfputz, Glänzte auf den bunten Bändern, Röthete die bunten
Säume.«
Die alte Mutter ließ die Mädchen nicht müßig gehen, noch säumig sein,
sondern hielt sie vom Morgen bis zum Abend zur Arbeit an; sie saßen
Tag für Tag am Spinnrocken und spannen Goldflachs zu Garn. Den
armen Dingern wurde weder Donnerstag noch Sonnabend[2] Abend
Muße gegönnt, den Gabenkasten zu bereichern,[3] und wenn nicht in
der Dämmerung oder im Mondenschein verstohlener Weise die
Stricknadel zur Hand genommen wurde, so blieb der Kasten ohne
Zuwachs. War die Kunkel abgesponnen, so wurde sofort eine neue
aufgesetzt, und überdies mußte das Garn eben, drall und fein sein. Das
fertige Garn verwahrte die Alte hinter Schloß und Riegel in einer
geheimen Kammer, wohin die Töchter ihren Fuß nicht setzen durften.
Von wo der Goldflachs in's Haus gebracht wurde, oder zu was für
einem Gewebe die Garne gesponnen wurden, das war den Spinnerinnen
nicht bekannt geworden; die Mutter gab auf solche Fragen niemals
Antwort. Zwei oder drei Mal in jedem Sommer machte die Alte eine
Reise, man wußte nicht wohin, blieb zuweilen über eine Woche aus
und kam immer bei nächtlicher Weile zurück, so daß die Töchter
niemals erfuhren, was sie mitgebracht hatte. Ehe sie abreiste, theilte sie
jedesmal den Töchtern auf so viel Tage Arbeit aus, als sie auszubleiben
gedachte.
Jetzt war wieder die Zeit gekommen, wo die Alte ihre Wanderung
unternehmen wollte. Gespinnst auf sechs Tage wurde den Mädchen
ausgetheilt, und dabei abermals die alte Ermahnung
eingeschärft:»Kinder laßt die Augen nicht schweifen und haltet die
Finger geschickt, damit der Faden in der Spule nicht reißt, sonst würde
der Glanz des Goldgarns verschwinden und mit eurem Glücke würde es
auch aus sein!« Die Mädchen verlachten diese mit Nachdruck gegebene
Ermahnung; ehe noch die Mutter auf ihrer Krücke zehn Schritte weit
vom Hause gekommen war, fingen sie alle drei an zu höhnen. »Dieses
alberne Verbot, das immer wiederholt wird, hätten wir nicht nöthig
gehabt,« sagte die jüngste Schwester. »Der Goldgarnfaden reißt nicht
beim Zupfen, geschweige denn beim Spinnen.« Die andere Schwester

setzte hinzu: »Eben so wenig ist es möglich, daß der Goldglanz sich
verliere.« Oft schon hat Mädchen-Vorwitz Manches voreilig verspottet,
woraus doch endlich nach vielem Jubel Thränenjammer erwuchs.
Am dritten Tage nach der Mutter Abreise ereignete sich ein
unerwarteter Vorfall, der den Töchtern anfangs Schrecken, dann Freude
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