Die schönsten Geschichten der Lagerlöf | Page 3

Selma Lagerlöf
möglich ist! Sie
hat zu viel geschrieben und doch viel zu wenig, sie malt fast immer die
Schönheiten ihrer schwedischen Heimat, doch der Polarstern ihres
Einfühlvermögens steht über der ganzen Welt; der Stern wandert mit
dem Erlöser der Schwere! Sie ist durch und durch germanisch, doch sie
dankt dem größten Slawen, Dostojewski, das meiste! Ihre Seele ist die
schwedische Volksseele in ihrer tiefgründigen Verspieltheit, doch ihr
gehört die Welt, deren gesamte Pracht sie in sich trägt. Sie ist die
liebreichste Mutter, ohne Mutter zu sein, sie bildet die Sagen und
Märchen ihrer Heimat; es sind die allgemein gültigen, auch in unseren
Tagen in jedes Menschen Leben im letzten Sinne sich stets
wiederholenden Sagen und Märchen aller Menschen, die Sehnsucht
tragen und den Himmel suchen. Sie ist naiv und aufs äußerste raffiniert;
sie ist Unterhaltungsschriftstellerin mit der Weltanschauung und dem
Können der reifsten Kunst; sie ist die reinste Seele, die seit Goethe und
Hölderlin am Werke war! Sie ist Künstlerin, weil sie ein großer
Mensch ist! Sie löst das Rätsel, das sich unablässig in ihren Werken

löst, die zum bedeutendsten Besitze dessen gehören, was das
Menschengeschlecht, zu seiner Erderlösung, hienieden aufzubauen
vermag. Sie ist die lebendige, wirkende Summe des Göttlichen, das
sich zu höchst lobt, dadurch, daß es unverlöschbar in der Menschheit,
in deren Besten, brennt! Sie ist die Lagerlöf.
Frohnau i. d. Mark
Walter von Molo

Der Luftballon
Vater und die Knaben sitzen an einem regnerischen Oktoberabend in
einem Kupee dritter Klasse, auf der Fahrt nach Stockholm. Vater ist auf
seiner Bank allein. Die Knaben sitzen ihm gegenüber, eng aneinander
geschmiegt, und lesen einen Roman von Jules Verne, der den Titel
führt: Sechs Wochen im Luftballon. Das Buch ist sehr abgegriffen. Die
Knaben können es fast auswendig und haben endlose Diskussionen
darüber geführt, aber sie lesen es immer wieder mit demselben
Vergnügen, sie haben alles vergessen, um den kühnen Luftschiffern
quer über Afrika zu folgen, und sie erheben nur selten den Blick vom
Buche, um die schwedischen Landschaften zu betrachten, die sie
durchfahren.
Die Knaben sehen einander sehr ähnlich. Sie sind von gleicher Größe,
gleich gekleidet -- in graue Überröcke und blaue Schulmützen --, sie
haben alle beide große träumerische Augen und kleine Stumpfnasen.
Sie sind immer gut Freund, gehen immer miteinander, kümmern sich
nicht um andre Kinder und sprechen immer von Erfindungen und
Entdeckungsfahrten. Der Begabung nach sind sie recht verschieden
geartet. Lennart, der ältere, der dreizehn Jahre zählt, kommt in der
Schule schwer vorwärts, und er kann kaum in irgendeinem
Gegenstande mit seiner Klasse Schritt halten. Dafür ist er aber sehr
geschickt und unternehmungslustig. Er will Erfinder werden und
beschäftigt sich beständig damit, eine Flugmaschine zu konstruieren.
Hugo ist ein Jahr jünger als Lennart, aber er begreift leichter und ist

schon in derselben Klasse wie der Bruder. Auch er interessiert sich
nicht besonders für das Lernen, hingegen ist er ein großer Sportsmann.
Skiläufer, Radfahrer und Eisläufer. Wenn er erwachsen ist, will er auf
Entdeckungsreisen gehen. Sobald Lennarts Flugmaschine fertig ist,
wird Hugo damit ausfliegen, um zu entdecken, was von der Welt noch
zu entdecken übrig ist.
Vater ist ein großgewachsener Mann mit eingesunkner Brust, fahlem
Gesicht und schmalen, schönen Händen. Er ist nachlässig gekleidet.
Seine Hemdbrust ist zerknittert, der Rockaufhänger guckt am Halse
hervor, die Weste ist schief geknöpft, und die Strümpfe sind
herabgerutscht. Er trägt das Haar so lang, daß es auf den Rockkragen
hängt, dies jedoch nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Geschmack
und Gewohnheit.
Vater stammt aus einem alten Spielmannsgeschlecht, weit her aus dem
Bauernland, und er hat als sein besondres Erbteil zwei starke Anlagen
mitbekommen. Die eine Anlage ist eine große musikalische Begabung,
und sie trat als erstes zutage. Er besuchte die Akademie in Stockholm,
studierte dann ein paar Jahre im Ausland und machte in diesen
Studienjahren so glänzende Fortschritte, daß er selbst und seine Lehrer
erwarteten, es würde ein großer, weltberühmter Violinspieler aus ihm
werden. Er hätte sicherlich Talent genug gehabt, dieses Ziel zu
erreichen, aber es fehlte ihm an Kraft und Ausdauer. Er konnte sich
draußen in der Welt keine Stellung erkämpfen, sondern kam gar bald
heim und nahm einen Organistenposten in einer Provinzstadt an.
Anfangs schämte er sich wohl, daß er allen den in ihn gesetzten
Erwartungen nicht entsprochen hatte; aber er empfand es auch
angenehm, einen sichern Lebensunterhalt zu haben und nicht mehr die
Barmherzigkeit fremder Leute in Anspruch nehmen zu müssen.
Kurz nachdem er die Stelle bekommen hatte, heiratete er; und einige
Jahre lang war er mit seinem Lose ganz zufrieden. Er hatte ein schönes
kleines Heim, eine frohe und glückliche Frau und zwei kleine Jungen,
und er war der Liebling der ganzen Stadt, überall gesucht und gefeiert.
Aber dann war eine Zeit gekommen, wo dies alles ihn nicht mehr zu
befriedigen schien. Er sehnte sich danach, noch einmal in die Welt

hinauszuziehen und sein Glück zu versuchen, doch fühlte er sich
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