Die natuerliche Tochter | Page 2

Johann Wolfgang von Goethe
darf vor
meinem König meine Tochter nennen, Ich darf ihn bitten, sie zu mir

herauf, Zu sich herauf zu heben, ihr das Recht Der fürstlichen Geburt
vor seinem Hofe, Vor seinem Reiche, vor der ganzen Welt Aus seiner
Gnadenfülle zu bewähren.
König. Vereint in sich die Nichte, die du mir, So ganz erwachsen,
zuzuführen denkst, Des Vaters und der Mutter Tugenden: So muss der
Hof, das königliche Haus, Indem uns ein Gestirn entzogen wird, Den
Aufgang eines neuen Sterns bewundern.
Herzog. O kenne sie, eh' du zu ihrem Vorteil Dich ganz entscheidest.
Lass ein Vaterwort Dich nicht bestechen! Manches hat Natur Für sie
getan, das ich entzückt betrachte, Und alles, was in meinem Kreise
webt, Hab' ich um ihre Kindheit hergelagert. Schon ihren ersten Weg
geleiteten Ein ausgebildet Weib, ein weiser Mann. Mit welcher
Leichtigkeit, mit welchem Sinn Erfreut sie sich des Gegenwärtigen,
Indes ihr Phantasie das künft'ge Glück Mit schmeichelhaften
Dichterfarben malt. An ihrem Vater hängt ihr frommes Herz, Und
wenn ihr Geist den Lehren edler Männer, Sich stufenweis entwickelnd,
friedlich horcht: So mangelt Übung ritterlicher Tugend Dem wohl
gebauten, festen Körper nicht. Du selbst, mein König, hast sie
unbekannt Im wilden drang der Jagd um dich gesehn. Ja, heute noch!
Die Amazonentochter, Die in den Fluss dem Hirsche sich zuerst Auf
raschem Pferde flüchtig nachgestürzt.
König. Wir sorgten alle für das edle Kind! Ich freue mich, sie mir
verwandt zu hören.
Herzog. Und nicht zum ersten Mal empfand ich heute, Wie Stolz und
Sorge, Vaterglück und Angst Zu übermenschlichem Gefühl sich
mischen.
König. Gewaltsam und behände riss das Pferd Sich und die Reiterin auf
jenes Ufer, In dicht bewachsner Hügel Dunkelheit. Und so verschwand
sie mir.
Herzog. Noch einmal hat Mein Auge sie gesehen, eh' ich sie Im
Labyrinth der hast'gen Jagd verlor. Wer weiß, welch ferne Gegend sie
durchstreift, Verdrossnen Muts, am Ziel sich nicht zu finden, Wo,
ihrem angebeteten Monarchen sich In ehrerbietiger Entfernung
anzunähern, Allein ihr jetzt erlaubt ist, bis er sie Als Blüte seines hoch
bejahrten Stammes Mit königlicher Huld zu grüßen würdigt.
König. Welch ein Getümmel seh' ich dort entstehn? Welch einen
Zulauf nach den Felsenwänden?

(Er winkt nach der Szene.)

Zweiter Auftritt Die Vorigen. Graf.
König. Warum versammelt sich die Menge dort?
Graf. Die kühne Reiterin ist eben jetzt Von jener Felsenwand
herabgestürzt.
Herzog. Gott!
König. Ist sie sehr beschädigt?
Graf. Eilig hat Man deinen Wundarzt, Herr, dahin gerufen.
Herzog. Was zaudr' ich? Ist sie tot, so bleibt mir nichts, Was mich im
Leben länger halten kann.

Dritter Auftritt König. Graf.
König. Kennst du den Anlass der Begebenheit?
Graf. Vor meinen Augen hat sie sich ereignet. Ein starker Trupp von
Reitern, welcher sich Durch Zufall von der Jagd getrennt gesehn,
Geführt von dieser Schönen, zeigte sich Auf jener Klippen Wald
bewachsner Höhe. Sie hören, sehen unten in dem Tal Den
Jagdgebrauch vollendet, sehn den Hirsch Als Beute liegen seiner
kläffenden Verfolger. Schnell zerstreuet sich die Schar, Und jeder sucht
sich einzeln seinen Pfad, Hier oder dort, mehr oder weniger Durch
einen Umweg. Sie allein besinnt Sich keinen Augenblick und nötiget
Ihr Pferd von Klipp' zu Klippe grad' herein. Des Frevels Glück
betrachten wir erstaunt; Denn ihr gelingt es eine Weile, doch Am
untern stielen Abhang gehen dem Pferde Die letzten, schmalen
Klippenstufen aus, Es stürzt herunter, sie mit ihm. So viel Konnt' ich
bemerken, eh' der Menge Drang Sie mir verdeckte. Doch ich hörte bald
Nach deinem Arzte rufen. So erschein' ich nun Auf deinen Wink, den
Vorfall zu berichten.
König. O möge sie ihm bleiben! Fürchterlich Ist einer, der nichts zu
verlieren hat.
Graf. So hat ihm dieser Schrecken das Geheimnis Auf einmal
abgezwungen, das er sonst Mit so viel Klugheit zu verbergen strebte?
König. Er hatte schon sich völlig mir vertraut.
Graf. Die Lippen öffnet ihm der Fürstin Tod, Nun zu bekennen, was für
Hof und Stadt Ein offenbar Geheimnis lange war. Es ist ein eigner,

grillenhafter Zug, Dass wir durch Schweigen das Geschehene Für uns
und andre zu vernichten glauben.
König. O lass dem Menschen diesen edlen Stolz! Gar vieles kann, gar
vieles muss geschehn, Was man mit Worten nicht bekennen darf.
Graf. Man bringt sie, fürcht' ich, ohne Leben her!
König. Welch unerwartet schreckliches Ereignis!

Vierter Auftritt Die Vorigen. Eugenie, auf zusammen geflochtenen
Ästen für tot herein getragen. Herzog. Wundarzt. Gefolge.
Herzog (zum Wundarzt). Wenn deine Kunst nur irgend was vermag,
Erfahrner Mann, dem unsres Königs Leben, Das unschätzbare Gut,
vertraut ist, lass Ihr helles Auge sich noch einmal öffnen, Dass
Hoffnung mir in diesem Blick erscheine! Dass aus der Tiefe meines
Jammers ich Nur Augenblicke noch gerettet werde! Vermagst du dann
nichts weiter, kannst du sie Nur wenige Minuten mir erhalten: So lasst
mich eilen, vor ihr hinzusterben, Dass ich im Augenblick des Todes
noch Getröstet rufe: Meine Tochter lebt!
König. Entferne dich, mein Oheim! Dass ich
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