Die griechische Tänzerin | Page 2

Arthur Schnitzler
die gerade in jenem Augenblick get?nt hatten. Er hatte wie oftmals mit dem Bolzen nach der Esche an der Mauer geschossen, und als er den Schrei h?rte, dachte er gleich, da? er den kleinen Bruder verletzt haben mu?te, der eben vorbeigelaufen war. Er lie? das Blasrohr aus den H?nden gleiten, sprang durchs Fenster in den Garten und stürzte zu dem kleinen Bruder hin, der auf dem Grase lag, die H?nde vors Gesicht geschlagen und jammerte. über die rechte Wange und den Hals flo? ihm Blut herunter. In derselben Minute kam der Vater vom Felde heim, durch die kleine Gartentür, und nun knieten beide ratlos neben dem jammernden Kinde. Nachbarn eilten herbei; die alte Vanetti war die erste, der es gelang, dem Kleinen die H?nde vom Gesicht zu entfernen. Dann kam auch der Schmied, bei dem Carlo damals in der Lehre war und der sich ein bi?chen aufs Kurieren verstand; und der sah gleich, da? das rechte Auge verloren war. Der Arzt, der abends aus Poschiavo kam, konnte auch nicht mehr helfen. Ja, er deutete schon die Gefahr an, in der das andere Auge schwebte. Und er behielt recht. Ein Jahr sp?ter war die Welt für Geronimo in Nacht versunken. Anfangs versuchte man ihm einzureden, da? er sp?ter geheilt werden k?nnte, und er schien es zu glauben. Carlo, der die Wahrheit wu?te, irrte damals tage- und n?chtelang auf der Landstra?e, zwischen den Weinbergen und in den W?ldern umher, und war nahe daran, sich umzubringen. Aber der geistliche Herr, dem er sich anvertraute, kl?rte ihn auf, da? es seine Pflicht war, zu leben und sein Leben dem Bruder zu widmen. Carlo sah es ein. Ein ungeheures Mitleid ergriff ihn. Nur wenn er bei dem blinden Jungen war, wenn er ihm die Haare streicheln, seine Stirne küssen durfte, ihm Geschichten erz?hlte, ihn auf den Feldern hinter dem Hause und zwischen den Rebengel?nden spazieren führte, milderte sich seine Pein. Er hatte gleich anfangs die Lehrstunden in der Schmiede vernachl?ssigt, weil er sich von dem Bruder gar nicht trennen mochte, und konnte sich nachher nicht mehr entschlie?en, sein Handwerk wieder aufzunehmen, trotzdem der Vater mahnte und in Sorge war. Eines Tages fiel es Carlo auf, da? Geronimo vollkommen aufgeh?rt hatte, von seinem Unglück zu reden. Bald wu?te er, warum: der Blinde war zur Einsicht gekommen, da? er nie den Himmel, die Hügel, die Stra?en, die Menschen, das Licht wieder sehen würde. Nun litt Carlo noch mehr als früher, so sehr er sich auch selbst damit zu beruhigen suchte, da? er ohne jede Absicht das Unglück herbeigeführt hatte. Und manchmal, wenn er am frühen Morgen den Bruder betrachtete, der neben ihm ruhte, ward er von einer solchen Angst erfa?t, ihn erwachen zu sehen, da? er in den Garten hinauslief, nur um nicht dabei sein zu müssen, wie die toten Augen jeden Tag von neuem das Licht zu suchen schienen, das ihnen für immer erloschen war. Zu jener Zeit war es, da? Carlo auf den Einfall kam, Geronimo, der eine angenehme Stimme hatte, in der Musik weiter ausbilden zu lassen. Der Schullehrer von Tola, der manchmal Sonntags herüberkam, lehrte ihn die Gitarre spielen. Damals ahnte der Blinde freilich noch nicht, da? die neuerlernte Kunst einmal zu seinem Lebensunterhalt dienen würde.
Mit jenem traurigen Sommertag schien das Unglück für immer in das Haus des alten Lagardi eingezogen zu sein. Die Ernte mi?riet ein Jahr nach dem anderen; um eine kleine Geldsumme, die der Alte erspart hatte, wurde er von einem Verwandten betrogen; und als er an einem schwülen Augusttag auf freiem Felde vom Schlag getroffen hinsank und starb, hinterlie? er nichts als Schulden. Das kleine Anwesen wurde verkauft, die beiden Brüder waren obdachlos und arm und verlie?en das Dorf.
Carlo war zwanzig, Geronimo fünfzehn Jahre alt. Damals begann das Bettel- und Wanderleben, das sie bis heute führten. Anfangs hatte Carlo daran gedacht, irgendeinen Verdienst zu finden, der zugleich ihn und den Bruder ern?hren k?nnte; aber es wollte nicht gelingen. Auch hatte Geronimo nirgend Ruhe; er wollte immer auf dem Wege sein.
Zwanzig Jahre war es nun, da? sie auf Stra?en und P?ssen herumzogen, im n?rdlichen Italien und im südlichen Tirol, immer dort, wo eben der dichtere Zug der Reisenden vorüberstr?mte.
Und wenn auch Carlo nach so vielen Jahren nicht mehr die brennende Qual verspürte, mit der ihn früher jedes Leuchten der Sonne, der Anblick jeder freundlichen Landschaft erfüllt hatte, es war doch ein stetes nagendes Mitleid in ihm, best?ndig und ihm unbewu?t, wie der Schlag seines Herzens und sein Atem. Und er war froh, wenn Geronimo sich betrank.
Der Wagen mit der deutschen Familie war davongefahren. Carlo setzte sich, wie er gern tat, auf die untersten Stufen der Treppe, Geronimo aber blieb stehen, lie? die Arme schlaff herabh?ngen und hielt den Kopf nach oben gewandt.
Maria, die Magd, kam aus der Wirtsstube.
?Habt's viel verdient heut?? rief sie herunter.
Carlo wandte sich gar nicht um. Der
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