Die Stufe | Page 6

Franziska Mann
wie das
meinige für Sie? Wäre es möglich, daß ich, ohne es zu wissen, im
Besitz jener Form gewesen bin? Ich vermag dieses Glück nicht
durchzudenken; ich darf diese Vorstellung nicht nähren, sie wäre
Wahnsinn -- --
In Ihrem Zimmer, neben Ihnen, möchte ich Ihnen das kleine Lied
vorlesen, von dem ich nicht weiß, ob es »etwas« sein könnte, von dem
nur eines gewiß ist: es entströmte der Wonne meines überseligen
Herzens.
Ihr Roland.

Maria an Roland.
Mein Junge, während mein Blick wieder und wieder auf das Blatt mit
Deinen großen, steilen Buchstaben fällt, vernehme ich den Ton Deiner
Stimme, die bebend und doch schicksalsergeben hier in meinem
Zimmer noch jetzt zu verkünden scheint:
»Wie heißer Kuß ist oft das erste Du -- Zwei glühende, von Sehnsucht
schwere Herzen, Die zitternd brennen wie geweihte Kerzen, Sie sinken
taumelnd sich einander zu.
Und war doch nur ein altgewohntes Wort, Das oftmals achtlos floß von
ihren Lippen, Und reißt sie nun -- hin über Fels und Klippen -- Ins
unermessne Meer der Liebe fort -- --«
Mit einem so gewaltigen Uebermaß von Glück überströmten mich
Deine Verse, daß ich garnicht zu mir selbst zurückfinden möchte --

nicht so rasch zurückfinden; denn, zurück muß ich ja doch, zurück.
Dein Lied, das mich erschreckt und erschüttert hat und aufgewühlt bis
ins tiefste Innere, täuscht noch immer den Atem Deiner Nähe vor --
obwohl Du mich vor einer Stunde verlassen hast. -- Aber sagen? Was
könnte ich Dir über die Wirkung (welch eine lächerliche Bezeichnung)
dieser zwei heißen Verse sagen?
Roland, ich, die ich bisher stets im Fluge mein Wollen und Wünschen,
mein Empfinden auszudrücken vermochte, habe eine Weile auf das
leere Blatt gestarrt und nicht gewußt, was ich Dir schreiben könnte.
Auch mich bedrückt die Armseligkeit meiner Worte, genau wie Dich
die Deine. --
Nicht nur Deine Verse erweckten in mir den Wahn, ich hätte noch nie
einen Frühling erlebt wie diesen. Dein Glaube an mich stimmt mich
jetzt immer feiertäglich. Du hast -- verzeihe den etwas pathetischen
Ausdruck -- mein Weltbild ganz verändert.
Offenheit ist mir zwischen Menschen, die ich mein nenne, stets so
natürlich, so naturgewollt erschienen wie das Erblühen einer Knospe.
Ich denke aber nicht an das vergröbernde »sich alles sagen«; nein, der
Wesenszug, den ich meine, ist zarteren Ursprungs. Das von dem
veränderten Weltbilde mußte ich Dir also berichten. Dagegen halte ich
es für gefährlich (ich meine niederziehend) über jeden alltäglichen
Kleinkram und Kleinkrieg miteinander zu sprechen. Dergleichen
schweigt man tot, redet es nicht »lebendig.«
Oft ist unser Gespräch tief in die Tage Deiner frühen Jugend geglitten.
Deine Kindheit, die von Verkennung und seelischer Erniedrigung ganz
erfüllt war, mußte in Deine Brust Aengste und Entsetzen schleudern,
deren Spuren unverlöschbar sind. Meine Kindheit glich einer langsam
aufsteigenden Morgenröte. Wieviel ich dieser Sonne schulde, weiß ich
erst, seitdem mir so viele, ganz verschieden geartete Menschen von
Fangarmen sprachen, die sich ihr ganzes Leben hindurch nach ihnen
ausstreckten, oder die sich an sie krallten, und die doch nichts anderes
waren als Hemmungen und Verängstigungen aus den Tagen ihrer
frühen Jugend. Die schlimmsten Morde sind unsichtbar und bleiben

straffrei. -- --
Mein lieber Junge, schon oft erfuhr ich es an mir: jedes tiefe Lieben
verstärkt unsere Eigenliebe. Oder weißt Du einen besseren Ausdruck
für diese Ichsucht? Vertausendfacht ist die Bedeutung der eigenen
Persönlichkeit vor uns selber. Was sind wir? Sind wir liebenswert?
Anscheinend längst verlassene Kalvarienwege liegen plötzlich wieder
grell beleuchtet neben uns, Stationen, die wir für alle Zeit verlassen zu
haben wähnten, tauchen auf und fordern gebieterisch erneutes Erinnern.
Nie bin ich mir so fremd gewesen wie in den letzten Tagen. Wohin
entschwand das Erschrecken über ein Gefühl, das so vieles
fortschwemmen konnte von dem, was ich bisher kühn »meine
Ueberzeugung« nannte?
Bist Du je auf taufrischem Waldpfad dahingewandert, ganz
hingenommen von morgendlicher Stille -- und dann plötzlich kam eine
schroffe Wegbiegung, tosender Sturm brach an und schleuderte Dir
Hagelschlossen in die Augen? Wir wissen oft nicht, welches Schauspiel
plötzlich eine unbekannte Gegend vor uns aufrollen könnte. Wie sollten
wir auch auf der weiten Erde so genau Bescheid wissen? Und dennoch
mögen wir in ihr besser auf Naturerscheinungen vorbereitet sein, als in
der engbegrenzten Welt unseres eigenen Herzens. Wir wissen nicht,
welche Summe an vorher ungeahntem Empfinden noch in uns
schlummert, welcher Steigerung unsere Seele fähig ist, welchem
Brausen unser Blut unterworfen sein könnte, wieviel unerlöste
Seligkeiten unsere Brust birgt. Roland, wie selbstherrlich bin ich doch
gewesen! Ich lächle über mich -- --
So oft ich Deinen täglichen Brief nun in Händen halte, verflüchtigt sich
alles irdisch Lastende. Für Augenblicke ist mein Zimmer in rosiges
Licht getaucht, oft nur sekundenlang. Und doch verdanke ich diesen
paar rascheren Herzensstößen eine nicht zu erschütternde
Siegesstimmung für beschattete spätere Tagesstunden. Konnte ich Dir
trotzdem gestern erklären, daß dieses häufige Schreiben »nicht nötig«
sei? Ich widerrufe, -- ach,
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