Die Schwestern | Page 9

Jakob Wasserman
nicht mehr zum Vorschein.
Fürchterlich zu denken, daß sie die unreife Frucht gepflückt haben
sollte und daß Süßes plötzlich bitter geworden war. »Öffne deine
Hände!« gebot sie Philipp nach einer Gewitternacht, die sie zusammen
auf der Burg bei Illescas verbracht hatten. Er öffnete seine Hände und
sie gewahrte, daß es die kleinen Hände eines Pagen waren. Der eine
Daumenballen war von einer Falkenkralle zerrissen. »Warum lächelst
du?« fragte sie verwundert; sie erkannte, daß dies Lächeln sein Schild
war, hinter dem sich niedrige Geheimnisse versteckten.
Auf die Wand der Kapelle, in der sie zu beten pflegte, war eine Szene
gemalt: ein schöner Jüngling, der vor der geisterhaften Erscheinung des
heiligen Jago die Flucht ergreift. Wenn sie in Philipps dunkelgrüne
Augen blickte, sah sie in unendlicher Verkleinerung das Bild des
fliehenden Jünglings darin. Stets ergriff er die Flucht vor ihr. Sein
geringstes Wort, seine zufälligste Bewegung ergriff die Flucht vor ihr.
Wenn sie sprach, senkte er den Kopf und alles an ihm verstummte.
Ging sie mit den Frauen über die Galerien und er stand mit seinen
Freunden im Hofe, so hörte er auf zu scherzen und legte mit

bekümmerter Miene den Arm über den Hals des Pferdes.
Fünfundzwanzig Tage des Monats war er fort vom Schlosse. Die
Bringer von wichtigen Nachrichten mußten warten. Wo ist Don Philipp?
fragten die Räte. Geantwortet wurde: er jagt mit dem Grafen Balduin;
oder er zecht mit dem Ritter Kastilalt; oder er ist zum Winzerfest nach
Saragossa geritten. Es gab auch Auskünfte, die man nur heimlich zu
raunen wagte; denn nicht selten spielten die schönen Maurinnen eine
Rolle bei den Zerstreuungen der Herren.
Wenn Philipp, wie es selten geschah, zur Nachtzeit das Gemach
Johannas betrat, war er fast jedesmal trunken. Seine Liebkosungen
rochen nach Wein, seine Leidenschaft war geräuschvoll und prahlerisch.
Sein Gemüt war im Rausch der Lüge wie sein Blut im Rausch des
Weines. Er merkte nicht, wie dann alles an Johanna lautlos schluchzte
und ihr Kuß ein Krampf der Reue wurde. Er hatte noch immer nicht
gelernt, in Menschengesichtern zu lesen; er hatte den Geist eines Pagen.
Wenn er auf dem Pferde saß und den Kopf stolz zur Seite drehte, dann
mochte er als ein Wesen für sich erscheinen. Aber seine Zunge war von
Gott versiegelt, und er wußte nichts von dem Schmerz um sich selbst.
Wie die Tage sich ausspannen zu Wochen und die Monate sich zu
Jahren dehnten, empfand Johanna kaum. Sie brachte ein drittes Kind
zur Welt, ein viertes, ein fünftes. Sie trug sie unter einem verödeten
Herzen und gebar sie -- hoffnungslos. Alle wurden ihr genommen wie
jenes Kind der Liebe; ihr war, als setze sie Gespenster ins Leben, Dinge,
die zu Luft verrannen, wenn ihr sehnsüchtiger Arm nach ihnen griff. In
ihre tiefe Verlassenheit blickten aus weiter Ferne, von hyperboreischer
Meeresküste her die lebendigen Augen ihres Sohnes Karl. Sie wußte
nicht mehr von ihm, als man von den Sagenfiguren aus der Vorzeit
erfährt.
Ihr vernichtetes und gescheuchtes Herz grub sich weiter in die Nacht.
In fremdartiger Hitze rollte ihr Blut. Beim Anblick der Sterne konnte
sie vor Ungeduld zittern und die Hand auf die zum Aufschrei
geöffneten Lippen pressen. Des Schlafes bedurfte sie kaum. Was sie
sprach, klang feindselig und verworren. Einmal nahm sie Petrarcas
Sonette zur Hand und las; plötzlich schleuderte sie das Buch, von Wut,

Gram und Haß überwältigt, weit weg, hob es wieder auf, riß es in
Fetzen und zerstampfte, was davon übrig war, mit den Füßen. Ihre
Ruhelosigkeit erregte den Schrecken aller Bewohner des Palastes;
selbst ihr Beichtvater hatte Angst vor den lodernden Augen. Wenn alles
schlief, ging sie mit der Kerze langsam durch ihr Zimmer, doch schritt
sie nie durch die Mitte des Raumes, sondern an den Wänden entlang.
Und ihr bloßer Hals leuchtete über dem dunklen Kleid wie der Stengel
einer Blume, die sich vor dem Sturme senkt.
* * * * *
Es ereignete sich nun, daß eine schöne Portugiesin an den Hof zu
Burgos kam, deren Name Benigna von Latiloe war. Sie wohnte im
Hause Don Inigos de Stuniga, dort sah sie auch den Herzog zum ersten
Mal und sie geriet in solche Liebe zu ihm, daß alle, die zugegen waren,
es sogleich merkten. Philipp jedoch verhielt sich kühl, trotzdem die
Dame von bezaubernder Anmut war und auch einigen Geist besaß. Bei
späteren Begegnungen wich er um so weniger von seinem höflichen,
aber gemessenen Betragen ab, als ihm der Eifer Donna Benignas lästig
zu werden begann und ihre Nachstellung den Stoff des öffentlichen
Geredes bildete. Wäre sie geschickt und kokett genug gewesen, seine
Eroberungslust zu reizen, so wäre sie vielleicht Gunstfräulein geworden,
denn andere, die sich nicht solcher Gaben rühmen konnten wie sie,
wurden dieses Vorzugs leicht zuteil; ihr schlug es fehl. Die
Aufrichtigkeit ihrer Leidenschaft war zu groß.
Das Unheil wollte es, daß der Ritter Franz von Kastilalt, der noch
immer der unzertrennliche
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