Die Regentrude | Page 8

Theodor W. Storm
Trude", antwortete das Mädchen noch immer kniend. "Ihr
habt so grausam lang geschlafen, daß alles Laub und alle Kreatur

verschmachten will!"
Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich,
aus schweren Träumen zu kommen.
Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: "Stürzt denn der Quell nicht
mehr?"
"Nein, Frau Trude", erwiderte Maren.
"Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?"
"Er steht in der heißen Sonne und schläft."
"Weh!" wimmerte die Regenfrau. "So ist es hohe Zeit. Steh auf und
folge mir, aber vergiß nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!"
Maren tat, wie ihr geheißen, und beide stiegen nun an der Seite des
Gesteins hinauf.--Noch mächtigere Baumgruppen, noch wunderbarere
Blumen waren hier der Erde entsprossen, aber auch hier war alles welk
und düftelos.--Sie gingen an der Rinne des Baches entlang, der hinter
ihnen seinen Abfall vom Gestein gehabt hatte. Langsam und
schwankend schritt die Trude dem Mädchen voran, nur dann und wann
die Augen traurig umherwendend. Dennoch meinte Maren, es bleibe
ein grüner Schimmer auf dem Rasen, den ihr Fuß betreten, und wenn
die grauen Gewänder über das dürre Gras schleppten, da rauschte es so
eigen, daß sie immer darauf hinhören mußte. "Regnet es denn schon,
Frau Trude?" fragte sie.
"Ach nein, Kind, erst mußt du den Brunnen aufschließen!"
"Den Brunnen? Wo ist denn der?"
Sie waren eben aus einer Gruppe von Bäumen herausgetreten. "Dort!"
sagte die Trude, und einige tausend Schritte vor ihnen sah Maren einen
ungeheuren Bau emporsteigen. Er schien von grauem Gestein zackig
und unregelmäßig aufgetürmt; bis in den Himmel, meinte Maren, denn
nach oben hinauf war alles wie in Duft und Sonnenglanz zerflossen.

Am Boden aber wurde die in riesenhaften Erkern vorspringende Front
überall von hohen spitzbogigen Tor- und Fensterhöhlen durchbrochen,
ohne daß jedoch von Fenstern oder Torflügeln selbst etwas zu sehen
gewesen wäre.
Eine Weile schritten sie gerade darauf zu, bis sie durch den Uferabsturz
eines Stromes aufgehalten wurden, der den Bau rings zu umgeben
schien. Auch hier war jedoch das Wasser bis auf einen schmalen Faden,
der noch in der Mitte floß, verdunstet; ein Nachen lag zerborsten auf
der trockenen Schlammdecke des Strombettes.
"Schreite hindurch!" sagte die Trude. "Über dich hat er keine Gewalt.
Aber vergiß nicht, von dem Wasser zu schöpfen; du wirst es bald
gebrauchen!"
Als Maren, dem Befehl gehorchend, von dem Ufer herabtrat, hätte sie
fast den Fuß zurückgezogen, denn der Boden war hier so heiß, daß sie
die Glut durch ihre Schuhe fühlte. Ei was, mögen die Schuhe
verbrennen! dachte sie und schritt rüstig mit ihrem Kruge weiter.
Plötzlich aber blieb sie stehen; der Ausdruck des tiefsten Entsetzens trat
in ihre Augen. Denn neben ihr zerriß die trockene Schlammdecke, und
eine große braunrote Faust mit krummen Fingern fuhr daraus hervor
und griff nach ihr.
"Mut!" hörte sie die Stimme der Trude hinter sich vom Ufer her.
Da erst stieß sie einen lauten Schrei aus, und der Spuk verschwand.
"Schließe die Augen!" hörte sie wiederum die Trude rufen.--Da ging
sie mit geschlossenen Augen weiter; als sie aber das Wasser ihren Fuß
berühren fühlte, bückte sie sich und füllte ihre Krug. Dann stieg sie
leicht und ungefährdet am andern Ufer wieder hinauf.
Bald hatte sie das Schloß erreicht und trat mit klopfendem Herzen
durch eines der großen offenen Tore. Drinnen aber blieb sie staunend
an dem Eingange stehen. Das ganze Innere schien nur ein einziger
unermeßlicher Raum zu sein. Mächtige Säulen von Tropfstein trugen in
beinahe unabsehbarer Höhe eine seltsame Decke; fast meinte Maren, es

seinen nichts als graue riesenhafte Spinngewebe, die überall in
Bauschen und Spitzen zwischen den Knäufen der Säulen herabhingen.
Noch immer stand sie wie verloren an derselben Stelle und blickte bald
vor sich hin, bald nach einer und der andern Seite, aber diese
ungeheuren Räume schienen außer nach der Front zu, durch welche
Maren eingetreten war, ganz ohne Grenzen zu sein; Säule hinter Säule
erhob sich, und wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nirgends
ein Ende absehen. Da blieb ihr Auge an einer Vertiefung des Bodens
haften. Und siehe! Dort, unweit von ihr, war der Brunnen; auch den
goldenen Schlüssel sah sie auf der Falltür liegen.
Während sie darauf zuging, bemerkte sie, daß der Fußboden nicht etwa,
wie sie es in ihrer Dorfkirche gesehen, mit Steinplatten, sondern überall
mit vertrockneten Schilf- und Wiesenpflanzen bedeckt war. Aber es
nahm sie jetzt schon nichts mehr wunder.
Nun stand sie am Brunnen und wollte eben den Schlüssel ergreifen; da
zog sie rasch die Hand zurück. Denn deutlich hatte sie es erkannt, der
Schlüssel, der ihr in dem grellen Licht eines von außen hereinfallenden
Sonnenstrahl entgegenleuchtete, war von Glut und nicht von Gold rot.
Ohne Zaudern goß sie ihren Krug darüber aus, daß das Zischen des
verdampfenden Wassers in den weiten Räumen widerhallte. Dann
schloß sie rasch den Brunnen auf. Ein frischer Duft stieg aus
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