Die Leute von Seldwyla, vol 1 | Page 5

Gottfried Keller
kleinen Wohlständchen lebte, ruhig und ohne
Sorgen; denn sie hatten ja einen tüchtigen Esser weniger und brauchten
für sich fast gar nichts.
Da war es einst ein heller schöner Sommernachmittag, mitten in der
Woche, wo man so an gar nichts denkt und die Leute in den kleinen
Städten fleißig arbeiten. Der Glanz von Seldwyla befand sich sämtlich
mit dem Sonnenschein auf den übergrünten Kegelbahnen vor dem Tore
oder auch in kühlen Schenkstuben in der Stadt. Die Falliten und Alten
aber hämmerten, näheten, schusterten, klebten, schnitzelten und
bastelten gar emsig darauf los, um den langen Tag zu benutzen und
einen vergnügten Abend zu erwerben, den sie nunmehr zu würdigen
verstanden. Auf dem kleinen Platze, wo die Witwe wohnte, war nichts
als die stille Sommersonne auf dem begrasten Pflaster zu sehen; an den

offenen Fenstern aber arbeiteten ringsum die alten Leute und spielten
die Kinder. Hinter einem blühenden Rosmaringärtchen auf einem
Brette saß die Witwe und spann, und ihr gegenüber Estherchen und
nähete. Es waren schon einige Stunden seit dem Essen verflossen und
noch hatte niemand eine Zwiesprache gehalten von der ganzen
Nachbarschaft. Da fand der Schuhmacher wahrscheinlich, daß es Zeit
sei, eine kleine Erholungspause zu eröffnen, und nieste so laut und
mutwillig: Hupschi! daß alle Fenster zitterten und der Buchbinder
gegenüber, der eigentlich kein Buchbinder war, sondern nur so aus dem
Stegreif allerhand Pappkästchen zusammenleimte und an der Türe ein
verwittertes Glaskästchen hängen hatte, in welchem eine Stange
Siegellack an der Sonne krumm wurde, dieser Buchbinder rief: Zur
Gesundheit! und alle Nachbarsleute lachten. Einer nach dem andern
steckte den Kopf durch das Fenster, einige traten sogar vor die Türe
und gaben sich Prisen, und so war das Zeichen gegeben zu einer
kleinen Nachmittagsunterhaltung und zu einem fröhlichen Gelächter
während des Vesperkaffees, der schon aus allen Häusern duftete und
zichorierte. Diese hatten endlich gelernt, sich aus wenigem einen Spaß
zu machen. Da kam in dies Vergnügen herein ein fremder Leiermann
mit einem schönpolierten Orgelkasten, was in der Schweiz eine
ziemliche Seltenheit ist, da sie keine eingeborenen Leiermänner besitzt.
Er spielte ein sehnsüchtiges Lied von der Ferne und ihren Dingen,
welches die Leute über die Maßen schön dünkte und besonders der
Witwe Tränen entlockte, da sie ihres Pankräzchens gedachte, das nun
schon viele Jahre verschwunden war. Der Schuhmacher gab dem
Manne einen Kreuzer, er zog ab und das Plätzchen wurde wieder still.
Aber nicht lange nachher kam ein anderer Herumtreiber mit einem
großen fremden Vogel in einem Käfig, den er unaufhörlich zwischen
dem Gitter durch mit einem Stäbchen anstach und erklärte, so daß der
traurige Vogel keine Ruhe hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und
die fernen blauesten Länder, über denen er in seiner Freiheit geschwebt,
kamen der Witwe in den Sinn und machten sie um so trauriger, als sie
gar nicht wußte, was das für Länder wären, noch wo ihr Söhnchen sei.
Um den Vogel zu sehen, hatten die Nachbarn auf das Plätzchen
hinaustreten müssen, und als er nun fort war, bildeten sie eine Gruppe,
steckten die Nasen in die Luft und lauerten auf noch mehr
Merkwürdigkeiten, da sie nun doch die Lust ankam, den übrigen Tag

zu vertrödeln.
Diese Lust wurde denn auch erfüllt und es dauerte nicht lange, bis das
allergrößte Spektakel sich mit großem Lärm näherte unter dem Zulauf
aller Kinder des Städtchens. Denn ein mächtiges Kamel schwankte auf
den Platz, von mehreren Affen bewohnt; ein großer Bär wurde an
seinem Nasenringe herbeigeführt; zwei oder drei Männer waren dabei,
kurz ein ganzer Bärentanz führte sich auf und der Bär tanzte und
machte seine possierlichen Künste, indem er von Zeit zu Zeit unwirsch
brummte, daß die friedlichen Leute sich fürchteten und in scheuer
Entfernung dem wilden Wesen zuschauten. Estherchen lachte und
freute sich unbändig über den Bären, wie er so zierlich
umherwatschelte mit seinem Stecken, über das Kamel mit seinem
selbstvergnügten Gesicht und über die Affen. Die Mutter dagegen
mußte fortwährend weinen; denn der böse Bär erbarmte sie, und sie
mußte wiederum ihres verschollenen Sohnes gedenken.
Als endlich auch dieser Aufzug wieder verschwunden und es wieder
still geworden, indem die aufgeregten Nachbarn sich mit seinem
Gefolge ebenfalls aus dem Staube gemacht, um da oder dort zu einem
Abendschöppchen unterzukommen, sagte Estherchen: „Mir ist es nun
zumute, als ob der Pankraz ganz gewiß heute noch kommen würde, da
schon so viele unerwartete Dinge geschehen und solche Kamele, Affen
und Bären dagewesen sind!" Die Mutter ward böse darüber, daß sie den
armen Pankraz mit diesen Bestien sozusagen zusammenzählte und
auslachte, und hieß sie schweigen, nicht innewerdend, daß sie ja selbst
das gleiche getan in ihren Gedanken. Dann sagte sie seufzend: „Ich
werde es nicht erleben, daß er wiederkommt!"
Indem sie dies sagte, begab sich die größte Merkwürdigkeit dieses
Tages und ein offener Reisewagen mit einem Extrapostillion fuhr mit
Macht auf das stille Plätzchen, das von der Abendsonne noch halb
bestreift war. In dem
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