Die Leiden des jungen Werther vol 1 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Charlotten S. mitnehmen sollte.--"Sie werden ein schönes
Frauenzimmer kennenlernen", sagte meine Gesellschafterin, da wir
durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause
fuhren.--"Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base, "daß Sie sich
nicht verlieben!"--"Wieso?" sagte ich.--"Sie ist schon
vergeben,"antwortete jene,"an einen sehr braven Mann, der weggereist
ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist,
und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben".--Die
Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem
Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten
ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen,
dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien.
Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich
selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen
Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich
ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die
vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir
das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in dem
Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein
Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes
Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein
schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück
nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit solcher
Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!", indem es
mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch
abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder
wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging
nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin
ihre Lotte wegfahren sollte.--"Ich bitte um Vergebung", sagte sie, "daß
ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem
Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit
habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie
wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir".

Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele
ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit,
mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre
Handschuhe und den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in
einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los,
das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich
zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte:"Louis, gib dem
Herrn Vetter eine Hand".--das tat der Knabe sehr freimütig, und ich
konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen
Rotznäschens, herzlich zu küssen.
"Vetter?" sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben Sie, daß
ich des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?"--"O", sagte sie
mit einem leichtfertigen Lächeln, "unsere Vetterschaft ist sehr
weitläufig, und es wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein
sollten".--Im Gehen gab sie Sophien, der ältesten Schwester nach ihr,
einem Mädchen von ungefähr elf Jahren, den Auftrag, wohl auf die
Kinder acht zu haben und den Papa zu grüßen, wenn er vom
Spazierritte nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer
Schwester Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre, das denn auch
einige ausdrücklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber,
von ungefähr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir
haben dich doch lieber".--die zwei ältesten Knaben waren hinten auf
die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis
vor den Wald mitzufahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken
und sich recht festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich
bewillkommt, wechselsweise über den Anzug, vorzüglich über die
Hüte ihre Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man
erwartete, gehörig durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und
ihre Brüder herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen
begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von
fünfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und
Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren
weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich
geschickt hätte.--"nein", sagte Lotte,"es gefällt mir nicht, Sie können's
wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser".--Ich erstaunte, als ich

fragte, was es für Bücher wären, und sie mir antwortete:--ich fand so
viel Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue
Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtszügen
hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu entfalten schienen,
weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstand.
"Wie ich jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane.
Weiß Gott, wie wohl mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein
Eckchen setzen und mit ganzem
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