Die Leiden des jungen Werther vol 1 | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung
über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende
Regignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen
sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt--das alles,
Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und
finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in
Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen

Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.
Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle
hochgelahrten Schul--und Hofmeister einig; daß aber auch Erwachsene
gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln und wie jene nicht
wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach
wahren Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und Kuchen und
Birkenreiser regiert werden: das will niemand gern glauben, und mich
dünkt, man kann es mit Händen greifen.
Ich gestehe dir gern, denn ich weiß, was du mir hierauf sagen möchtest,
daß diejenigen die Glücklichsten sind, die gleich den Kindern in den
Tag hinein leben, ihre Puppen herumschleppen, aus--und anziehen und
mit großem Respekt um die Schublade umherschleichen, wo Mama das
Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn sie das gewünschte
endlich erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und
rufen:"mehr!"--das sind glückliche Geschöpfe. Auch denen ist's wohl,
die ihren Lumpenbeschäftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften
prächtige Titel geben und sie dem Menschengeschlechte als
Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben.--Wohl
dem, der so sein kann! Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles
hinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein
Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch
der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle
gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger
zu sehn--ja, der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und
ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt
er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und
daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.
Am 26. Mai
Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an
einem vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuschlagen und da mit aller
Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe ich wieder ein Plätzchen
angetroffen, das mich angezogen hat.
Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim
nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man
oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal
das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter
ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles geht, sind zwei

Linden, die mit ihren ausgebreiteten [sten den kleinen Platz vor der
Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhäusern, Scheunen und Höfen
eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht leicht ein
Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem
Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und
lese meinen Homer. Das erstenmal, als ich durch einen Zufall an einem
schönen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen so
einsam. Es war alles im Felde; nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren
saß an der Erde und hielt ein anderes, etwa halbjähriges, vor ihm
zwischen seinen Füßen sitzendes Kind mit beiden Armen wider seine
Brust, so daß er ihm zu einer Art von Sessel diente und ungeachtet der
Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz
ruhig saß. Mich vergnügte der Anblick: ich setzte mich auf einen Pflug,
der gegenüber stand, und zeichnete die brüderliche Stellung mit vielem
Ergetzen. Ich fügte den nächsten Zaun, ein Scheunentor und einige
gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es hinter einander stand, und
fand nach Verlauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete, sehr
interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeste von dem
Meinen hinzuzutun. Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich
künftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich, und
sie allein bildet den großen Künstler. Man kann zum Vorteile der
Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen
Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird
nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer,
der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein
unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann;
dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre
Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören! Sag'
du: 'das ist zu hart! Sie schränkt nur ein, beschneidet die geilen Reben'
etc.--guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie
mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt
alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, all
sein Vermögen, um ihr jeden Augenblick auszudrücken, daß er sich
ganz ihr hingibt. Und da
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