Die Leiden des jungen Werther vol 1 | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
Fülle mein oft schauderndes Herz.
Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte
zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen
herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.
Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine
unaussprechliche Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen
Grafen von M., einen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die mit
der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Täler
bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich bei dem Eintritte,
daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz
den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen wollte. Schon
manche Träne hab' ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen
Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war und auch
meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir
zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei
befinden.

Am 10. Mai
Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen,
gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße.
Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für
solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein
Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß
meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht
einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen
Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe
Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines
Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum
stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher
an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden;
wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die
unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen
näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des
Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des
Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält;
mein Freund! Wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt
um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die
Gestalt einer Geliebten--dann sehne ich mich oft und denke : ach
könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das
einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel
deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen
Gottes!--mein Freund--aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege
unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder
ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir
alles rings umher so paradiesisch macht. Das ist gleich vor dem Orte
ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit
ihren Schwestern.--Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest
dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo
unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer,
die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz
rings umher bedecken, die Kühle des Orts; das hat alles so was
Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht
eine Stunde da sitze. Da kommen die Mädchen aus der Stadt und holen

Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die
Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die
patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altväter, am
Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen
und Quellen wohltätige Geister schweben. O der muß nie nach einer
schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt
haben, der das nicht mitempfinden kann.
Am 13. Mai
Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst?--lieber, ich bitte
dich um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr
geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus
sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle
gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich mein empörtes Blut zur
Ruhe, denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz.
Lieber! Brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen
hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer
Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn? Auch
halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm
gestattet. Sage das nicht weiter; es gibt Leute, die mir es verübeln
würden.
Am 15. Mai
Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich,
besonders die Kinder. Eine traurige Bemerkung hab' ich gemacht. Wie
ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über
dies und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten
mich wohl gar grob ab. Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte
ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste : Leute von
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