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ETEXTS*Ver.04.29.93*END*
This etext was prepared by Michael Pullen,
[email protected] with proofreading and correction by
Dr. Mary Cicora,
[email protected].
Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe, Band 6
Erstes Buch
Am 4. Mai 1771
Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des
Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich
unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir's.
Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom
Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore!
Und doch war ich unschuldig. Konnt' ich dafür, daß, während die
eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung
verschafften, daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete?
Und doch--bin ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen
genährt? Hab' ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der
Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren,
selbst ergetzt? Hab' ich nicht--o was ist der Mensch, daß er über sich
klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich
bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal
vorlegt, wiederkäuen, wie ich's immer getan habe; ich will das
Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein.
Gewiß, du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den
Menschen, wenn sie nicht--Gott weiß, warum sie so gemacht sind!--mit
so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die
Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine
gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, daß ich ihr Geschäft bestens
betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe
meine Tante gesprochen und bei weitem das böse Weib nicht gefunden,
das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere, heftige Frau von
dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über
den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gründe,
Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre, alles
herauszugeben, und mehr als wir verlangten--kurz, ich mag jetzt nichts
davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich
habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, daß
Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt
machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren
gewiß seltener.
Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem
Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese
Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller