Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Herzen zu kosten. Da stand ich nun unter der Linde, die ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze meiner Spazierg?nge gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genu? hoffte, meinen strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus der weiten Welt--o mein Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerst?rten Planen!--Ich sah das Gebirge vor mir liegen, das tausendmal der Gegenstand meiner Wünsche gewesen war. Stundenlang konnt' ich hier sitzen und mich hinüber sehnen, mit inniger Seele mich in den W?ldern, den T?lern verlieren, die sich meinen Augen so freundlich-d?mmernd darstellten; und wenn ich dann um die bestimmte Zeit wieder zurück mu?te, mit welchem Widerwillen verlie? ich nicht den lieben Platz!--Ich kam der Stadt n?her, alle die alten, bekannten Gartenh?uschen wurden von mir gegrü?t, die neuen waren mir zuwider, so auch alle Ver?nderungen, die man sonst vorgenommen hatte. Ich trat zum Tor hinein und fand mich doch gleich und ganz wieder. Lieber, ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend, als es mir war, so einf?rmig würde es in der Erz?hlung werden. Ich hatte beschlossen, auf dem Markte zu wohnen, gleich neben unserem alten Haus. Im Hingehen bemerkte ich, da? die Schulstube, wo ein ehrliches altes Weib unsere Kindheit zusammengepfercht hatte, in einen Kramladen verwandelt war. Ich erinnere mich der Unruhe, der Tr?nen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem Loche ausgestanden hatte.--Ich tat keinen Schritt, der nicht merkwürdig war. Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viele St?tten religi?ser Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich so voll heiliger Bewegung.--Noch eins für tausend. Ich ging den Flu? hinab, bis an einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg, und die Pl?tzchen, wo wir Knaben uns übten, die meisten Sprünge der flachen Steine im Wasser hervorzubringen. Ich erinnerte mich so lebhaft, wenn ich manchmal stand und dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahnungen ich es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden vorstellte, wo es nun hinfl?sse, und wie ich da sobald Grenzen meiner Vorstellungskraft fand; und doch mu?te das weiter gehen, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne verlor. --Sieh, mein Lieber, so beschr?nkt und so glücklich waren die herrlichen Altv?ter! So kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung! Wenn uly? von dem ungeme?nen Meer und von der unendlichen Erde spricht, das ist so wahr, menschlich, innig, eng und geheimnisvoll. Was hilft mich's, da? ich jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, da? sie rund sei? Der Mensch braucht nur wenige Erdschollen, um drauf zu genie?en, weniger, um drunter zu ruhen. Nun bin ich hier, auf dem fürstlichen Jagdschlo?. Es l??t sich noch ganz wohl mit dem Herrn leben, er ist wahr und einfach. Wunderliche Menschen sind um ihn herum, die ich gar nicht begreife. Sie scheinen keine Schelmen und haben doch auch nicht das Ansehen von ehrlichen Leuten. Manchmal kommen sie mir ehrlich vor, und ich kann ihnen doch nicht trauen. Was mir noch leid tut, ist, da? er oft von Sachen redet, die er nur geh?rt und gelesen hat, und zwar aus eben dem Gesichtspunkte, wie sie ihm der andere vorstellen mochte. Auch sch?tzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz und alles Elendes. Ach, was ich wei?, kann jeder wissen--mein Herz habe ich allein.
Am 25. Mai
Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts sagen wollte, bis es ausgeführt w?re: jetzt, da nichts draus wird, ist es ebenso gut. Ich wollte in den Krieg; das hat mir lange am Herzen gelegen. Vornehmlich darum bin ich dem Fürsten hierher gefolgt, der General in ***schen Diensten ist. Auf einem Spaziergang entdeckte ich ihm mein Vorhaben; er widerriet mir es, und es mü?te bei mir mehr Leidenschaft als Grille gewesen sein, wenn ich seinen Gründen nicht h?tte Geh?r geben wollen.
Am 11. Junius
Sage was du willst, ich kann nicht l?nger bleiben. Was soll ich hier? Die Zeit wird mir lang. Der Fürst h?lt mich, so gut man nur kann, und doch bin ich nicht in meiner Lage. Wir haben im Grunde nichts gemein mit einander. Er ist ein Mann von Verstande, aber von ganz gemeinem Verstande; sein Umgang unterh?lt mich nicht mehr, als wenn ich ein wohl geschriebenes Buch lese. Noch acht Tage bleibe ich, und dann ziehe ich wieder in der Irre herum. Das Beste, was ich hier getan habe, ist mein Zeichnen. Der Fürst fühlt in der Kunst und würde noch st?rker fühlen, wenn er nicht durch das garstige wissenschaftliche Wesen und durch die gew?hnliche Terminologie eingeschr?nkt w?re. Manchmal knirsche ich mit den Z?hnen, wenn ich ihn mit warmer Imagination an Natur und Kunst herumführe und er es auf einmal recht gut zu machen denkt,
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