Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
Korn zu verkaufen, als ich, so will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das gl?nzende Elend, die Langeweile unter dem garstigen Volke, das sich hier neben einander sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen; die elendesten, erb?rmlichsten Leidenschaften, ganz ohne R?ckchen. Da ist ein Weib, zum Exempel, die jedermann von ihrem Adel und ihrem Lande unterh?lt, so da? jeder Fremde denken mu?: das ist eine N?rrin, die sich auf das bi?chen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche einbildet.--Aber es ist noch viel ?rger: eben das Weib ist hier aus der Nachbarschaft eine Amtschreiberstochter.--Sieh, ich kann das Menschengeschlecht nicht begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich so platt zu prostituieren.
Zwar ich merke t?glich mehr, mein Lieber, wie t?richt man ist, andere nach sich zu berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu tun habe und dieses Herz so stürmisch ist--ach ich lasse gern die andern ihres Pfades gehen, wenn sie mich auch nur k?nnten gehen lassen.
Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verh?ltnisse. Zwar wei? ich so gut als einer, wie n?tig der Unterschied der St?nde ist, wie viel Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade im Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Glück auf dieser Erde genie?en k?nnte. Ich lernte neulich auf dem Spaziergange ein Fr?ulein von B. kennen, ein liebenswürdiges Gesch?pf, das sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben erhalten hat. Wir gefielen uns in unserem Gespr?che, und da wir schieden, bat ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen zu dürfen. Sie gestattete mir das mit so vieler Freimütigkeit, da? ich den schicklichen Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von hier und wohnt bei einer Tante im Hause. Die Physiognomie der Alten gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein Gespr?ch war meist an sie gewandt, und in minder als einer halben Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fr?ulein nachher selbst gestand: da? die liebe Tante in ihrem Alter Mangel von allem, kein anst?ndiges Verm?gen, keinen Geist und keine Stütze hat als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als den Stand, in den sie sich verpalisadiert, und kein Ergetzen, als von ihrem Stockwerk herab über die bürgerlichen H?upter wegzusehen. In ihrer Jugend soll sie sch?n gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst mit ihrem Eigensinne manchen armen Jungen gequ?lt, und in den reifern Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben, der gegen diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb. Nun sieht sie im eisernen sich allein und würde nicht angesehn, w?r' ihre Nichte nicht so liebenswürdig.
Den 8. Januar 1772
Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische Angelegenheit h?tten: nein, vielmehr h?ufen sich die Arbeiten, eben weil man über den kleinen Verdrie?lichkeiten von Bef?rderung der wichtigen Sachen abgehalten wird. Vorige Woche gab es bei der Schlittenfahrt H?ndel, und der ganze Spa? wurde verdorben.
Die Toren, die nicht sehen, da? es eigentlich auf den Platz gar nicht ankommt, und da? der, der den ersten hat, so selten die erste Rolle spielt! Wie mancher K?nig wird durch seinen Minister, wie mancher Minister durch seinen Sekret?r regiert! Und wer ist dann der Erste? Der, dünkt mich, der die andern übersieht und so viel Gewalt oder List hat, ihre Kr?fte und Leidenschaften zu Ausführung seiner Plane anzuspannen.
Am 20. Januar
Ich mu? Ihnen schreiben, liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen Bauernherberge, in die ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet habe. Solange ich in dem traurigen Nest D..., unter dem fremden, meinem Herzen ganz fremden Volke herumziehe, habe ich keinen Augenblick gehabt, keinen, an dem mein Herz mich gehei?en h?tte, Ihnen zu schreiben; und jetzt in dieser Hütte, in dieser Einsamkeit, in dieser Einschr?nkung, da Schnee und Schlo?en wider mein Fensterchen wüten, hier waren Sie mein erster Gedanke. Wie ich hereintrat, überfiel mich Ihre Gestalt, Ihr Andenken, o Lotte! So heilig, so warm! Guter Gott! Der erste glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich s?hen, meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetrocknet meine Sinne werden! Nicht einen Augenblick der Fülle des Herzens, nicht eine selige Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe wie vor einem Rarit?tenkasten und sehe die M?nnchen und G?ulchen vor mir herumrücken, und frage mich oft, ob es nicht optischer Betrug ist. Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette und fasse manchmal meinen Nachbar an der h?lzernen Hand und schaudere zurück. Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genie?en, und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des Mondscheins zu erfreuen,
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