Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
Geduld! Es wird besser werden. Denn ich sage dir, Lieber, du hast recht. Seit ich unter dem Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was sie tun und wie sie's treiben, stehe ich viel besser mit mir selbst. Gewi?, weil wir doch einmal so gemacht sind, da? wir alles mit uns und uns mit allem vergleichen, so liegt Glück oder Elend in den Gegenst?nden, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts gef?hrlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch ihre Natur gedrungen sich zu erheben, durch die phantastischen Bilder der Dichtkunst gen?hrt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das unterste sind und alles au?er uns herrlicher erscheint, jeder andere vollkommner ist. Und das geht ganz natürlich zu. Wir fühlen so oft, da? uns manches mangelt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft ein anderer zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben, und noch eine gewisse idealistische Behaglichkeit dazu. Und so ist der Glückliche vollkommen fertig, das Gesch?pf unserer selbst.
Dagegen, wenn wir mit all unserer Schwachheit und Mühseligkeit nur gerade fortarbeiten, so finden wir gar oft, da? wir mit unserem Schlendern und Lavieren es weiter bringen als andere mit ihrem Segeln und Rudern--und--das ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man andern gleich oder gar vorl?uft.
Am 26. November
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier zu befinden. Das beste ist, da? es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei Menschen, die allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den Grafen C... kennen lernen, einen Mann, den ich jeden Tag mehr verehren mu?, einen weiten, gro?en Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel übersieht; aus dessen Umgange so viel Empfindung für Freundschaft und Liebe hervorleuchtet. Er nahm teil an mir, als ich einen Gesch?ftsauftrag an ihn ausrichtete und er bei den ersten Worten merkte, da? wir uns verstanden, da? er mit mir reden konnte wie nicht mit jedem. Auch kann ich sein offnes Betragen gegen mich nicht genug rühmen. So eine wahre, warme Freude ist nicht in der Welt, als eine gro?e Seele zu sehen, die sich gegen einen ?ffnet.
Am 24. Dezember
Der Gesandte macht mir viel Verdru?, ich habe es vorausgesehn. Er ist der pünktlichste Narr, den es nur geben kann; Schritt vor Schritt und umst?ndlich wie eine Base; ein Mensch, der nie mit sich selbst zufrieden ist, und dem es daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern leicht weg, und wie es steht, so steht es; da ist er imstande, mir einen Aufsatz zurückzugeben und zu sagen:"er ist gut, aber sehen Sie ihn durch, man findet immer ein besseres Wort, eine reinere Partikel."--Da m?chte ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindew?rtchen darf au?enbleiben, und von allen Inversionen, die mir manchmal entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Period nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts drin. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen von C... ist noch das einzige, was mich schadlos h?lt. Er sagte mir letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden er mit der Langsamkeit und Bedenklichkeit meines Gesandten sei. Die Leute erschweren es sich und andern. "Doch," sagte er, "man mu? sich darein resignieren wie ein Reisender, der über einen Berg mu?; freilich, w?re der Berg nicht da, so w?r der Weg viel bequemer und kürzer; er ist nun aber da, und man soll hinüber!"
Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm gibt, und das ?rgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, übels gegen mich vom Grafen zu reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die Sache nur schlimmer. Gestern gar brachte er mich auf, denn ich war mit gemeint: zu so Weltgesch?ften sei der Graf ganz gut, er habe viele Leichtigkeit zu arbeiten und führe eine gute Feder, doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu machte er eine Miene, als ob er sagen wollte: "fühlst du den Stich?" Aber es tat bei mir nicht die Wirkung; ich verachtete den Menschen, der so denken und sich so betragen konnte. Ich hielt ihm stand und focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich sagte, der Graf sei ein Mann, vor dem man Achtung haben müsse, wegen seines Charakters sowohl als wegen seiner Kenntnisse." "Ich habe," sagt' ich, "niemand gekannt, dem es so geglückt w?re, seinen Geist zu erweitern, ihn über unz?hlige Gegenst?nde zu verbreiten und doch diese T?tigkeit fürs gemeine Leben zu behalten."--das waren dem Gehirne spanische D?rfer, und ich empfahl mich, um nicht über ein weiteres Deraisonnement noch mehr Galle zu schlucken.
Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt und mir so viel von Aktivit?t vorgesungen habt. Aktivit?t! Wenn nicht der mehr tut, der Kartoffeln legt und in die Stadt reitet, sein
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