Die Last | Page 9

Georg Engel
aufbeiße.
»Gott schütz' mich -- Elsing -- Elsing, was ist mir nur?« stammelte
Wilms und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn -- »nach
Hause -- nach Hause.«
Er lief, er stürmte dahin, bis er mit keuchender Brust den öden,
schlummernden Hof erreicht hatte. Auf den Zehen schlich er dann
durch den Flur und öffnete geräuschlos das Zimmer.
Ein Nachtlicht brannte auf dem Tisch. Aus dem Halbdunkel, aus dem
die unruhigen Atemzüge der Kranken herauszitterten, erhob sich eine
schlanke Gestalt und kam unhörbar auf den Eindringling zu.
Jetzt stand Hedwig vor ihm. Sie legte die Finger auf die Lippen und
raunte kurz:
»Sie schläft -- ich werde heute bei ihr wachen.«
»Du?«
»Ja.«
»Du? Nein, das -- das will ich nicht.«
Das Mädchen beugte sich plötzlich vor, daß er ihren Atem fühlte.
»Und warum nicht?«
Trotz der Dunkelheit trafen sich ihre Blicke und blieben erstaunt und

fragend aneinander hängen. Da rollte die Uhr; die Liegende regte sich,
und dann -- Wilms trat zurück und murmelte müde:
»Meinetwegen.«
Damit schloß er die Tür, um sich draußen leise über die knarrende
Treppe nach jener Kammer unter dem Strohdach zurechtzutasten, wo er
schon oft genächtigt hatte.
Und so gleichgültig und abgespannt fühlte er sich, daß er sich selbst gar
nicht die Frage vorlegte, warum er dem Mädchen nachgegeben.
Oben in der kahlen, weißgetünchten Stube entkleidete er sich schnell,
und bald lag er ausgestreckt in dem hohen Bett, ohne jedoch die
ersehnte Ruhe finden zu können.
Die niedrige Decke drückte ihn beinahe auf den Kopf, und immer
wieder hob er das Haupt und lauschte auf das Ächzen und Pfeifen des
Windes, der klagend über das Dach strich.
Es klang ebenfalls wie das Stöhnen eines gefolterten, riesenhaften
Leibes.

VI.
Die zehnte Stunde des Vormittags war bereits angebrochen, als Hedwig
in die Stube trat, die sie kurz vorher verlassen, ein modernes Hütchen
auf dem braunen Haar, und über der Taille ein elegantes, offenes
Jackett, das ihren vollendeten Wuchs erst recht hervorhob.
Sie streifte sich Handschuhe auf und spähte dabei aufmerksam zum
Fenster hinaus, wie nach dem Stand des Wetters.
»Du willst fort?« forschte die Kranke mit leisem Vorwurf, während
eine Wolke über ihre Stirn flog, denn die Bedauernswerte hatte bereits
die feste Überzeugung gewonnen, daß sie sich in Gegenwart ihrer
Schwester wohler befinde.

»Ja,« versetzte die Jüngere aufatmend und ohne die verborgene Rüge
sonderlich zu beachten: »Es ist heute so frisch draußen -- wirklich
prachtvoll -- überall ziehen Sommerfäden -- sieh nur -- und hier
drinnen --« sie vollendete nicht, sondern setzte rasch hinzu: »Ich bin
das Wachen doch wohl noch nicht so recht gewohnt -- und dir geht es
ja heute besser -- da will ich einmal einen Gang durch eure Wirtschaft
machen. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«
»Aber Hedwig, wenn ich so allein --«
»Ich bringe dir auch was Schönes mit,« schnitt die andere lächelnd ab
und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Seufzend richtete sich die Verlassene auf und blickte sehnsüchtig durch
die Fensterscheiben der schlanken Mädchengestalt nach, die draußen
bereits ohne sonderliche Eile mit leichten kräftigen Bewegungen über
den Hof schritt.
»Wer doch auch so --,« flüsterte die Kranke endlich, »einmal noch, nur
einmal -- --« Krampfhaft faltete sie die Hände, und ihre Seele hob sich
wieder in jenem einen brünstigen Gebete zu Gott.
Unterdessen hatte Hedwig den Hof durchmessen. Wer sie so sah, mit
dem eleganten, dünnen Sonnenschirm in der Hand, und ihrer modernen
Kleidung, der hätte kaum geglaubt, daß den braunen, blitzenden Augen
dieser jungen Dame nicht der kleinste Schaden im Strohdach einer
Scheune entging.
Sie bemerkte alles. Auch für das Geringfügigste in diesem
schweigenden Gehöft schien sie ein Interesse zu empfinden.
Vor dem offnen Kuhstall, aus dem ein warmer Dunst herausschlug,
hockte auf einem Prellstein ein alter, verwitterter Mann, ein greises,
dürres, zahnloses Menschenkind, das kopfwackelnd dasaß und sich zu
sonnen schien. Neben ihm, auf dem Holzpantoffel des Alten stand ein
zerzauster Rabe auf einem Bein und war gleichfalls in den allgemeinen
bleiernen Schlaf versunken, der wie verwunschen die gesamte kleine
Besitzung umfangen hielt.

»Alterchen,« rief Hedwig, als sie ihn erreicht hatte, und stampfte leicht
mit ihrem Schirm auf den Boden: »Warum sieht der Hof so schmutzig
aus?«
»He?« grunzte der Alte und hob nach Art der Schwerhörigen das Ohr.
Dabei blinzelten seine erloschenen, blöden Augen in das frische,
blühende Mädchengesicht empor, und der zahnlose Mund begann zu
kauen.
Das junge, kräftige Leben da vor ihm gefiel ihm augenscheinlich nicht.
Auch redete sie ihn mit zu wenig Hochachtung an, denn der alte
Krischan aß schon seit Menschengedenken auf dem Hof das
Gnadenbrot und stand außerdem im Rufe dunkler lichtscheuer Künste.
Der Rabe galt dabei als eine Art dienender böser Geist oder mindestens
doch als Bundesgenosse zu allerlei schwarzen Taten.
»Schnell -- nehmt einen Besen und fegt einmal ordentlich aus,« rief
plötzlich das schöne Mädchen dringend dazwischen. Ihr war es, als
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