Die Juden | Page 4

Gotthold Ephraim Lessing
Sie fangen an zu moralisieren, das ist: Sie
werden zornig. Mäßigen Sie sich; ich gehe schon--
Der Reisende. Ihr müßt wenig Überlegungen zu machen gewohnt sein.
Das, was wir diesem Herrn erwiesen haben, verlieret den Namen einer
Wohltat, sobald wir die geringste Erkenntlichkeit dafür zu erwarten
scheinen. Ich hätte mich nicht einmal sollen mit hieher nötigen lassen.
Das Vergnügen, einem Unbekannten ohne Absicht beigestanden zu
haben, ist schon vor sich so groß! Und er selbst würde uns mehr Segen

nachgewünscht haben, als er uns jetzt übertriebene Danksagung hält.
Wen man in die Verbindlichkeit setzt, sich weitläuftig, und mit dabei
verknüpften Kosten zu bedanken, der erweiset uns einen Gegendienst,
der ihm vielleicht saurer wird, als uns unsere Wohltat geworden. Die
meisten Menschen sind zu verderbt, als daß ihnen die Anwesenheit
eines Wohltäters nicht höchst beschwerlich sein sollte. Sie scheint ihren
Stolz zu erniedrigen;--
Christoph. Ihre Philosophie, mein Herr, bringt Sie um den Atem. Gut!
Sie sollen sehen, daß ich ebenso großmütig bin, als Sie. Ich gehe; in
einer Viertelstunde sollen Sie sich aufsetzen können.

Fünfter Auftritt
Der Reisende. Das Fräulein.
Der Reisende. So wenig ich mich mit diesem Menschen gemein
gemacht habe, so gemein macht er sich mit mir.
Das Fräulein. Warum verlassen Sie uns, mein Herr? Warum sind Sie
hier so allein? Ist Ihnen unser Umgang schon die wenigen Stunden, die
Sie bei uns sind, zuwider geworden? Es sollte mir leid tun. Ich suche
aller Welt zu gefallen; und Ihnen möchte ich, vor allen andern, nicht
gern mißfallen.
Der Reisende. Verzeihen Sie mir, Fräulein. Ich habe nur meinem
Bedienten befehlen wollen, alles zur Abreise fertig zu halten.
Das Fräulein. Wovon reden Sie? von Ihrer Abreise? Wenn war denn
Ihre Ankunft? Es sei noch, wenn Sie über Jahr und Tag eine
melancholische Stunde auf diesen Einfall brächte. Aber wie, nicht
einmal einen völligen Tag aushalten wollen? Das ist zu arg. Ich sage es
ihnen, ich werde böse, wenn Sie noch einmal daran gedenken.
Der Reisende. Sie könnten mir nichts Empfindlichers drohen.
Das Fräulein. Nein? im Ernst? ist es wahr, würden Sie empfindlich sein,
wenn ich böse auf Sie würde?
Der Reisende. Wem sollte der Zorn eines liebenswürdigen
Frauenzimmers gleichgültig sein können?
Das Fräulein. Was Sie sagen, klingt zwar beinahe, als wenn Sie spotten
wollten, doch ich will es für Ernst aufnehmen; gesetzt, ich irrte mich
auch. Also, mein Herr,--ich bin ein wenig liebenswürdig, wie man mir
gesagt hat,--und ich sage Ihnen noch einmal, ich werde entsetzlich,
entsetzlich zornig werden, wenn Sie, binnen hier und dem neuen Jahr,

wieder an Ihre Abreise gedenken.
Der Reisende. Der Termin ist sehr liebreich bestimmt. Alsdann wollten
Sie mir, mitten im Winter, die Türe weisen; und bei dem unbequemsten
Wetter-Das Fräulein. Ei! wer sagt das? Ich sage nur, daß Sie alsdann,
des Wohlstands halber, etwa einmal an die Abreise denken können.
Wir werden Sie deswegen nicht fortlassen; wir wollen Sie schon
bitten--
Der Reisende. Vielleicht auch des Wohlstands halber?
Das Fräulein. Ei! seht, man sollte nicht glauben, daß ein so ehrliches
Gesicht auch spotten könnte.--Ah! da kömmt der Papa. Ich muß fort!
Sagen Sie ja nicht, daß ich bei Ihnen gewesen bin. Er wirft mir so oft
genug vor, daß ich gern um Mannspersonen wäre.

Sechster Auftritt
Der Baron. Der Reisende.
Der Baron. War nicht meine Tochter bei Ihnen? Warum läuft denn das
wilde Ding?
Der Reisende. Das Glück ist unschätzbar, eine so angenehme und
muntre Tochter zu haben. Sie bezaubert durch ihre Reden, in welchen
die liebenswürdigste Unschuld, der ungekünsteltste Witz herrschst.
Der Baron. Sie urteilen zu gütig von ihr. Sie ist wenig unter
ihresgleichen gewesen, und besitzt die Kunst zu gefallen, die man
schwerlich auf dem Lande erlernen kann, und die doch oft mehr, als die
Schönheit selbst vermag, in einem sehr geringen Grade. Es ist alles bei
ihr noch die sich selbst gelaßne Natur.
Der Reisende. Und diese ist desto einnehmender, je weniger man sie in
den Städten antrifft. Alles ist da verstellt, gezwungen und erlernt. Ja
man ist schon so weit darin gekommen, daß man Dummheit, Grobheit
und Natur für gleich viel bedeutende Wörter hält.
Der Baron. Was könnte mir angenehmer sein, als daß ich sehe, wie
unsre Gedanken und Urteile so sehr übereinstimmen? Oh! daß ich nicht
längst einen Freund Ihresgleichen gehabt habe!
Der Reisende. Sie werden ungerecht gegen Ihre übrigen Freunde.
Der Baron. Gegen meine übrigen Freunde, sagen Sie? Ich bin funfzig
Jahr alt.--Bekannte habe ich gehabt, aber noch keinen Freund. Und
niemals ist mir die Freundschaft so reizend vorgekommen, als seit den
wenigen Stunden, da ich nach der Ihrigen strebe. Wodurch kann ich sie

verdienen?
Der Reisende. Meine Freundschaft bedeutet so wenig; daß das bloße
Verlangen darnach ein genugsames Verdienst ist, sie zu erhalten. Ihre
Bitte ist weit mehr wert, als das, was Sie bitten.
Der Baron. Oh, mein Herr, die Freundschaft eines Wohltäters-Der
Reisende. Erlauben Sie,--ist keine Freundschaft. Wenn
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