Die Geburt der Tragödie | Page 8

Friedrich Wilhelm Nietzsche

dem aristotelischen Ausdrucke, "die Nachahmung der Natur" tiefer zu
verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechen ist trotz
aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur
vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen:
bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung
ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man
sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen,
auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse,
Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der
Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine
Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die träumenden
Griechen als Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu
bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich
hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.
Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn
die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen
Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der
alten Welt - um die neuere hier bei Seite zu lassen - von Rom bis
Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren
Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie
der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu
Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer
überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über
jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg
flutheten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt,
bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die

mir immer als der eigentliche "Hexentrank" erschienen ist. Gegen die
fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land-
und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit
lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen
Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt
keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser
fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in
der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat.
Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als
endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche
Triebe Bahnbrachen: jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen
Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit
abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu
nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der
Geschichte des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die
Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnung
zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab
einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodischer Uebersendung von
Ehrengeschenken; im Grunde war die Kluft nicht überbrückt. Sehen
wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die
dionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit
jenen babylonischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen
zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die
Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen.
Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei
ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein
künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust
und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung
und Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer erinnert
an ihn - wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern -, jene Erscheinung,
dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle
Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens
oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In
jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug
der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu
seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach

gestimmter Schwärmer war für die homerisch- griechische Welt etwas
Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische
Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik scheinbar bereits als
eine apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau
genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft
zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik
des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur
angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist
gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter
der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die
erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und
die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen
Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner
symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich
zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein
als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der
Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig,
einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des
Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder
rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen
symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und
Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller
symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener
Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften
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