Die Frauenfrage | Page 3

Lily Braun
vergessen, die, begünstigt von Glück oder von der
Begabung, weithin sichtbar aus der Masse hervorragten. Die

fortschreitende ökonomische Entwicklung befreite diese Masse mehr
und mehr aus ihrem Sklavenverhältnis, und während auf der einen Seite
die Unterschiede zwischen Reichtum und Armut sich verschärften,
wurde andrerseits eine gewisse Gleichheit der Bildung und Aufklärung
befördert. Mit der Sklaverei und der Leibeigenschaft verschwand der
Absolutismus: das zum Selbstbewußtsein erwachte Volk erhob
Anspruch auf das Recht, bei der Bestimmung über sein Wohl und
Wehe mitzusprechen, und gedieh zu einem Machtfaktor, mit dem
gerechnet werden muß. Als es anfing, sich bemerkbar zu machen,
wurde es von der Wissenschaft gleichsam erst entdeckt, man begann,
sein Leben, Fühlen und Denken in Vergangenheit und Gegenwart zu
erforschen, und eröffnete damit ein Gebiet, das einen fast
unerschöpflichen Reichtum neuer Erkenntnis in sich birgt.
Einen ähnlichen Werdegang wie das Volk hat auch die Frau
durchmessen. Sie steht jetzt in allen Kulturländern auf dem Punkt, sich
ihre wirtschaftliche, rechtliche und sittliche Gleichberechtigung zu
erkämpfen. Nur für denjenigen, der die Entwicklungsgeschichte kennt,
der weiß, welch langen, mühevollen Weg sie bis zu diesem Punkt
zurücklegen mußte, wird die große, weit über ihr Geschlecht
hinausreichende Bedeutung dieses Emanzipationskampfes klar. Aus der
Tiefe des weiblichen Wesens und seiner Geschichte ist die Frauenfrage
herausgewachsen, und sie muß bis in ihre Wurzeln hinein verfolgt
werden, um die ganze Schwierigkeit der in ihr enthaltenen Probleme zu
erkennen und die richtigen Mittel zu ihrer Lösung zu finden.
Die Entwicklungsgeschichte des weiblichen Geschlechts stellt sich,
soweit wir auf historischem Boden stehen, als eine lange, im Dunkeln
sich abspielende Leidensgeschichte dar. Aber auch wenn wir diesen
Boden verlassen und uns auf Grund gelehrter Forschungen ein Bild des
Lebens der Frau in grauer Vorzeit zu machen versuchen, finden wir sie
immer in einem Zustand der Enge und Begrenztheit des persönlichen
Daseins. Er war zunächst durch die Natur ihres Geschlechts selbst
begründet. Die Mutterschaft beschränkte ihre Bewegungsfreiheit und
machte sie schutzbedürftig, obgleich--was wir berechtigt sind
anzunehmen--die Geschlechtsfunktionen weit weniger als heute mit
pathologischen Erscheinungen sich verbanden. Das kleine Kind jedoch

bedurfte infolge seiner völligen Unselbständigkeit der mütterlichen
Fürsorge und während der Mann--in welcher Periode der
Menschheitsentwicklung immer--ungehindert durch
Geschlechtsbeschränkungen seinen Trieben folgen konnte, erschien es
als das erste, dem Menschen zum Bewußtsein kommende Naturgesetz,
daß die Mutter an das Kind gefesselt war. Es machte die Frau im
Vergleich, zum Mann von vornherein unfrei; es lud ihr Lasten und
Leiden auf, die niemand ihr abnehmen konnte. Es trug aber auch den
Keim der Entwicklung aller Zivilisation und aller Sittlichkeit in sich.
Die Mutterliebe, jenes ursprünglichste Gefühl, war die erste Erhellung
moralischer Finsternis. Durch die Mutterliebe ging vom Weibe jede
Erhebung der Gesittung aus.[1] Denn nicht der Bund zwischen Mann
und Weib war, wie uns viele glauben machen wollen, die erste,
unumstößliche Vereinigung, sondern der Bund zwischen Mutter und
Kind.[2]
Die Entstehung des neuen Lebens aus dem Weibe war zugleich das
erste Mysterium, das sich dem Menschen offenbarte. In den
Mythologieen vieler Völker finden wir daher die Spuren göttlicher
Verehrung des weiblichen Prinzips in der Natur: In der Göttin Isis
beteten die Aegypter die fruchtbare Erde an. Neith, deren
geheimnisvoller Tempel in Sais stand, war die Personifikation der
mütterlichen, gebärenden Kraft. Von der Urmutter Themis erfährt Zeus
das nur ihr bekannte Geheimnis des Alls. Ueber Odin, den Göttervater
und alle Götter der Germanen stehen. Die Schicksalsgöttinnen, die
Nornen. Gunnlöd, ein Weib, verwahrt den Trank der höchsten Weisheit;
durch sie erst wird er Odin zu teil.
Aber die Bedeutung des Weibes als Mutter, die Urgemeinschaft
zwischen Mutter und Kind liegt nicht nur der primitiven Religion,
sondern auch dem primitiven Recht zu Grunde. Für das natürliche,
durch keinerlei Klügeleien beirrte Rechtsbewußtsein war das Kind
Eigentum der Mutter, die es unter ihrem Herzen trug, an ihrer Brust
ernährte, seine ersten Schritte leitete, ihm Obdach und Nahrung gab. Es
ist daher nicht zu verwundern, daß sich übereinstimmend bei
zahlreichen Völkern eine Periode des geltenden Mutterrechts

nachweisen läßt.
Vielfach ist diese Bezeichnung so verstanden worden, als ob sie mit
Weiberherrschaft identisch wäre, und es giebt sogar Vorkämpfer der
Frauenbewegung, die in der Gynäkokratie das goldene Zeitalter der
Freiheit und Gleichheit des weiblichen Geschlechtes preisen, das
verlorene Paradies, das wieder gefunden werden muß. Wer dagegen die
Forschungen Morgans, Bachofens und anderer nüchtern prüft, vor
dessen Augen erscheint die Zeit des Mutterrechts ohne jede poetische
Verklärung als ein Zustand primitivster Kultur für Mann und Weib,
und er findet keinerlei Zeichen dafür, daß das Weib eine
"Oberherrschaft" nach unseren Begriffen ausgeübt hat.[3]
Versuchen wir es, uns ein Bild jenes Zustandes zu machen. Nach
jahrtausendelanger Entwicklung hat sich der Mensch aus dem Tierreich
losgelöst; er ist aus den Baumwipfeln, wo er sich zum Schutz vor den
wilden und stärkeren Tieren vermutlich aufgehalten hat, zur Erde
herabgestiegen und hat den ersten Triumph seines entwickelten Geistes
gefeiert, indem er nicht nur den Stein gegen die Bedroher seines
Lebens schleudern lernte,
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