was sind sie mehr, als
Mittel, ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese
Aussichten der Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu
thun vermögend sey.
§. 84.
Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche
dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur
nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung!
§. 85.
Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der
Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer
bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl
Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig
haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil
willkührliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften
Blick ehedem blos heften und stärken sollten, die innern bessern
Belohnungen desselben zu erkennen.
§. 86.
Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die
uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen
wird.
§. 87.
Vielleicht, daß selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten und
vierzehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen ewigen
Evangeliums aufgefangen hatten; und nur darum irrten, daß sie den
Ausbruch desselben so nahe verkündigten.
§. 88.
Vielleicht war ihr dreyfaches Alter der Welt keine so leere Grille; und
gewiß hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, daß der
Neue Bund eben so wohl antiquiret werden müsse, als es der Alte
geworden. Es blieb auch bey ihnen immer die nehmliche Oekonomie
des nehmlichen Gottes. Immer--sie meine Sprache sprechen zu
lassen--der nehmliche Plan der allgemeinen Erziehung des
Menschengeschlechts.
§. 89.
Nur daß sie ihn übereilten; nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch
kaum der Kindheit entwachsen waren, ohne Aufklärung, ohne
Vorbereitung, mit Eins zu Männern machen zu können glaubten, die
ihres dritten Zeitalters würdig wären.
§. 90.
Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer thut oft sehr
richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht
erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß
sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende
Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reifen. Denn was
hat er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bey
seinen Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt er
wieder zu kommen?--Sonderbar, daß diese Schwärmerey allein unter
den Schwärmern nicht mehr Mode werden will!
§.91.
Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich
dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.--Laß mich an
dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten,
zurück zu gehen!--Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die
gerade ist.
§. 92.
Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel
Seitenschritte zu thun!--Und wie? wenn es nun gar so gut als
ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das
Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere
schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein
Einzelnes eben dahin liefert?
§. 93.
Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner
Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der
später) erst durchlaufen haben.--"In einem und eben demselben Leben
durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher
Jude und ein geistiger Christ gewesen seyn? Kann er in eben demselben
Leben beyde überhohlet haben?"
§. 94.
Das wohl nun nicht!--Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch
nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn?
§. 95.
Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil
der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule zerstreut
und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?
§. 96.
Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu
meiner Vervollkommung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen
und Belohnungen den Menschen bringen können?
§. 97.
Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die
Aussichten in ewige Belohnungen, so mächtig helfen?
§. 98.
Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse,
neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so
viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?
§. 99.
Darum nicht?--Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen?
Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen
Zustände, würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen
zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich
denn das auf ewig vergessen?
§. 100.
Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde?--Verloren?
--Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit
mein?
Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Die Erziehung des
Menschengeschlechts, von Gotthold Ephraim Lessing.
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Menschengeschlechts by Gotthold Ephraim Lessing
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ERZIEHUNG DES ***
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