Die Aufgeregten | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
manche Bedenklichkeit
hinausgehen, ich würde mein Herz hören, das mir Billigkeit gebietet,
und meinen Verstand, der mich einen wahren Vorteil von einem
scheinbaren unterscheiden lehrt. Ich würde großmütig sein, wie es dem
gar wohl ansteht, der Macht hat. Ich würde mich hüten, unter dem
Scheine des Rechts auf Forderungen zu beharren, die ich durchzusetzen
kaum wünschen müsste, und die, indem ich Widerstand finde, mir auf
lebenslang den völligen Genuss eines Besitzes rauben, den ich auf
billige Weise verbessern könnte. Ein leidlicher Vergleich und der
unmittelbare Gebrauch sind besser als eine wohl gegründete
Rechtssache, die mir Verdruss macht, und von der ich nicht einmal den
Vorteil für meine Nachkommen einsehe.
Amtmann. Euer Exzellenz erlauben, dass ich darin der entgegen
gesetzten Meinung sein darf. Ein Prozess ist eine so reizende Sache,
dass, wenn ich reich wäre, ich eher einige kaufen würde, um nicht ganz

ohne dieses Vergnügen zu leben. (Amtmann tritt ab.)
Gräfin. Es scheint, dass er seine Lust an unsern Besitztümern büßen
will.

Dritter Auftritt Gräfin. Magister.
Magister. Darf ich fragen, gnädige Gräfin, wie sie sich befinden?
Gräfin. Wie Sie denken können, nach der Alteration, die mich bei
meinem Eintritt überfiel.
Magister. Es tat mir herzlich Leid; doch, hoff' ich, soll es von keinen
Folgen sein. Überhaupt aber kann Ihnen schwerlich der Aufenthalt hier
so bald angenehm werden, wenn Sie ihn mit dem vergleichen, den Sie
vor kurzem genossen haben.
Gräfin. Es hat auch große Reize, wieder zu Hause bei den Seinigen zu
wohnen.
Magister. Wie oftmals hab' ich Sie um das Glück beneidet, gegenwärtig
zu sein, als die größten Handlungen geschahen, die je die Welt gesehen
hat, Zeuge zu sein des seligen Taumels, der eine große Nation in dem
Augenblick ergriff, als sie sich zum ersten Mal frei und von den Ketten
entbunden fühlte, die sie so lange getragen hatte, dass diese schwere
fremde Last gleichsam ein Glied ihres elenden, kranken Körpers
geworden.
Gräfin. Ich habe wunderbare Begebenheiten gesehen, aber wenig
Erfreuliches.
Magister. Wenngleich nicht für die Sinne, doch für den Geist. Wer aus
großen Absichten fehl greift, handelt immer lobenswürdiger, als wer
dasjenige tut, was nur kleinen Absichten gemäß ist. Man kann auf dem
rechten Wege irren und auf dem falschen recht gehen-- --

Vierter Auftritt Die Vorigen. Luise.
(Durch die Ankunft dieses vorzüglichen Frauenzimmers wird die
Lebhaftigkeit des Gesprächs erst gemildert und sodann die Unterredung
von dem Gegenstande gänzlich abgelenkt. Der Magister, der nun weiter
kein Interesse findet, entfernt sich, und das Gespräch unter den beiden
Frauenzimmern setzt sich fort, wie folgt.)
Gräfin. Was macht mein Sohn? Ich war eben im Begriff, zu ihm zu
gehen.

Luise. Er schläft recht ruhig, und ich hoffe, er wird bald wieder
herumspringen und in kurzer Zeit keine Spur der Beschädigung mehr
übrig sein.
Gräfin. Das Wetter ist gar zu übel, sonst ging' ich in den Garten. Ich bin
recht neugierig, zu sehen, wie alles gewachsen ist, und wie der
Wasserfall, wie die Brücke und die Felsenkluft sich jetzt ausnehmen.
Luise. Es ist alles vortrefflich gewachsen; die Wildnisse, die Sie
angelegt haben, scheinen natürlich zu sein; sie bezaubern jeden, der sie
zum ersten Mal sieht, und auch mir geben sie noch immer in einer
stillen Stunde einen angenehmen Aufenthalt. Doch muss ich gestehen,
dass ich in der Baumschule unter den fruchtbaren bäumen lieber bin.
Der Gedanke des Nutzens führt mich aus mir selbst heraus und gibt mir
eine Fröhlichkeit, die ich sonst nicht empfinde. Ich kann säen, pfropfen,
okulieren; und wenngleich mein Auge keine malerische Wirkung
empfindet, so ist mir doch der Gedanke von Früchten höchst reizend,
die einmal und wohl bald jemanden erquicken werden.
Gräfin. Ich schätze Ihre guten häuslichen Gesinnungen.
Luise. Die einzigen, die sich für den Stand schicken, der ans
Notwendige zu denken hat, dem wenig Willkür erlaubt ist.
Gräfin. Haben Sie den Antrag überlegt, den ich Ihnen in meinem
letzten Briefe tat? Können Sie sich entschließen, meiner Tochter Ihre
Zeit zu widmen, als Freundin, als Gesellschafterin mit ihr zu leben?
Luise. Ich habe kein Bedenken, gnädige Gräfin.
Gräfin. Ich hatte viel Bedenken, Ihnen den Antrag zu tun. Die wilde
und unbändige Gemütsart meiner Tochter macht ihren Umgang
unangenehm und oft sehr verdrießlich. So leicht mein Sohn zu
behandeln ist, so schwer ist es meine Tochter.
Luise. Dagegen ist ihr edles Herz, ihre Art, zu handeln, aller Achtung
wert. Sie ist heftig, aber bald zu besänftigen, unbillig, aber gerecht,
stolz, aber menschlich.
Gräfin. Hierin ist sie ihrem Vater--
Luise. Äußerst ähnlich. Auf eine sehr sonderbare Weise scheint die
Natur in der Tochter den rauen Vater, in dem Sohne die zärtliche
Mutter wieder hervorgebracht zu haben.
Gräfin. Versuchen Sie, Luise, dieses wilde, aber edle, Feuer zu
dämpfen. Sie besitzen alle Tugenden, die ihr fehlen. In Ihrer Nähe,
durch Ihr Beispiel wird sie gereizt werden, sich nach einem Muster zu

bilden, das so liebenswürdig ist.
Luise. Sie beschämen mich, gnädige Gräfin. Ich
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