Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde | Page 9

Klabund
Unstete, der Schweifende, am Anfang der neuen Dichtung. Nur wer den Mut zu Ab- und Seitenwegen hat, der wird auch neue Wege finden. Darum sind alle diese Pfadfinder von schwankender Menschlichkeit und durchweg, wenn auch nicht immoralisch, so doch amoralisch gerichtet. Sie sind verdammt, Lasten und Laster einer Generation vorweg zu nehmen und zu schleppen, die nach ihnen kommt. Diese hat ihre Freiheit der Unfreiheit, ihre schwebende Leichtigkeit der stampfenden Schwere jener zu danken. Jene sind wie Stiere, diese wie Sonnenadler. Der junge Goethe als Student in Leipzig: das ist eine w?rtliche Neuauflage des jungen G��nther. Der nie ein alter G��nther werden sollte, denn er starb im 28. Jahre an einem Blutsturz. Diesen Blutsturz erlebte auch Goethe in Leipzig: aber er ��berstand ihn und ging gekr?ftigt aus der Krise hervor. G��nther hatte sein Blut verstr?mt. Sein junges Leben und Dichten ist ein Verbrennen und Verbluten. Er ist der erste Dichter, der sich bewu?t au?erhalb der b��rgerlichen Gesellschaft stellt, und der dadurch jenen latenten Konflikt mit seinem starrk?pfigen Vater heraufbeschwor, der nicht wenig zu seiner Erbitterung und Verbitterung und zu seinem vorzeitigen Zusammenbruch beigetragen hat. Gar so leicht wurde es dem Kinde nicht, von selbst gehen zu lernen in einer Welt, die sich ihm feindlich gegen��berstellte, und die Abl?sung von der Nabelschnur, die ihn in den Eltern mit dem B��rgertum verband, geschah nicht ohne Kr?mpfe und Schmerzen. Er hatte Feinde ?ringsum?. Seine wilde Leier w��nschten Tausende ins Feuer, ?denn sie rasselt allzuscharf?. Wie ein von allen gemiedener r?udiger Hund lief er durch Deutschlands Stra?en. Da ��bermannte ihn die Verzweiflung, da? er zu sterben w��nschte, weil Leonore selbst ihn verlassen. Aber er rei?t sich wieder empor, die Tr?nen versiegen, die Faust ballt sich:
Ich will hoffen, Hoffnung siegt.
Und abends, auf der Dorfstra?e, wenn er ein sch?nes M?dchen am Zaun stehen sah, konnte er wieder l?cheln. Er l?chelte und lachte ihr und sang ihr zu:
Sch?nen Kindern Liebe singen Ist das Amt der Poesie,
und reichte ihr galant den Arm und spazierte mit ihr in den Wald oder auf den Kirchhof, und auf den Gr?bern der Toten bl��hten die K��sse der Lebenden und Liebenden wie Jasmin und Tulipan.
Gelangt er bei seiner Wanderung in eine Universit?tsstadt, versammelt er eine Genossenschaft junger trunkener Menschen um sich und singt ihnen das sch?nste deutsche Studentenlied:
Bruder, la?t uns lustig sein, Weil der Fr��hling w?hret ...
Sein Lorbeer gr��nt, wie er selber sang, auf die Nachwelt hin. Sein Name dringt durch Sturm und Wetter der Ewigkeit ins Heiligtum.
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Mit G��nther gleichaltrig ist der Ostpreu?e Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der der deutschen Literatur mit professoraler Weisheit und deutend erhobenem Zeigefinger: dies darfst du! und: dies darfst du nicht! auf die Beine helfen wollte. Ich wei? nicht, ob er G��nther gekannt hat. Jedenfalls h?tten ihn seine Wildheit und sein Feuer best��rzt und erschreckt. Er war f��r das Manierliche und Moralische. B��rgerlich-wohlanst?ndig, klar, deutlich und n��chtern hatte die Poesie zu sein. In seinem ?Versuch einer kritischen Dichtkunst f��r die Deutschen? stellte er eine enge und beschr?nkte Theorie auf und verlangte mit der Geste eines Diktators, da? sich jeder Dichter -- immer mal wieder -- strikt danach zu richten habe, ansonst der Herr Lehrer ihm eine F��nf ins B��chel schreibe. Das Wichtige an Gottscheds dramaturgischen Leistungen ist das Wagnis, das Experiment. Andere erst sollten aus seinen Erfahrungen lernen. Der Liebling des Lesepublikums wurde Christian F��rchtegott Gellert (aus Sachsen, 1715-1769). Denn er vereinigte die damaligen Richtungen harmonisch in sich: Gottscheds Steifheit, Bodmers ?moralische? Phantasie, Hallers gebirgiges Barock und eine milde pietistische Fr?mmigkeit, die seit Gerhard und Gryphius aus der deutschen Dichtung nicht verschwunden war. Zu seiner Volkst��mlichkeit trug nicht wenig ein ehrenfester, lauterer Charakter bei. In ihm durfte das B��rgertum sein Ideal sehen: selbst Friedrich der Gro?e, der in seiner Schrift ?Von der deutschen Literatur? vor der deutschen Dichtung absolut keinen Respekt zeigte, verneigte sich huldigend vor dem kleinen Leipziger Professor der Beredsamkeit und Moral. Seine Fabeln, Erz?hlungen und geistlichen Lieder pl?tschern sacht und sanft daher, hie und da mit einem Schu? gutm��tiger Bosheit versehen, gerade so boshaft, da? es nicht weh tut. Weh tun wollte diese personifizierte G��te niemandem. Er war nicht nur ein F��rchtegott, sondern auch ein F��rchtemensch und F��rchtetier. Da? das Tier in ihm wie in jedem Menschen lebendig war, beweist eine in mancher Fabel durchbrechende L��sternheit, die zu unterdr��cken seine ganze moralische Kraft notwendig war. Denn er war zu krank, um einer animalischen Lust recht und wahrhaft leben zu k?nnen wie Friedrich von Hagedorn (aus Hamburg, 1708-1754), der Anf��hrer einer ganzen Schar galanter Herren, die in erster Linie Kavaliere, in zweiter erst Dichter sein wollten und die Anbetung der Muse und der geliebten Frau h?chst zweckm??ig vereinten.
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Auf dem Wege ��ber die Romanen waren Horaz und Anakreon zu den Deutschen gekommen. Bei dieser Wanderung hatten sie manches von ihren urspr��nglichen Reizen verloren und manches an neuen Reizen hinzubekommen.
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