Deutsche Charaktere und Begebenheiten | Page 2

Jakob Wasserman
des Volkes als Ganzes zukommen, als auch dem uns überlieferten Bilde repr?sentativer M?nner entsprechen. Den Ma?stab hierzu liefert mir das lebendige und flie?ende Element der Geschichte. Indem sie mir eine zergliederte, beseelte Nachricht über das Ereignis gibt, wie auch über die Personen, die in ihm eine Rolle gespielt haben, erlaubt sie mir zugleich, Ereignis und Figur zu deuten, in freier Betrachtung zu erweitern und zu verallgemeinern. Das Gesetz begreifen, das Schicksal fühlen, die auf dem von der Menschheit bisher beschrittenen Weg gewaltet haben, ist das einzige Mittel, die Wege ihrer Zukunft wenigstens flüchtig und ahnend zu erleuchten.
In diesem Sinne hat man vom deutschen Charakter zu reden und ihn als ein Umgrenztes und Unterscheidendes zu erkl?ren. Es w?re nicht einmal notwendig, auf Stammeseigentümlichkeiten zu verweisen, auf ausgebildete und in jeder Landschaft anders geartete Merkmale der Sprache, auf die Landschaftsformen selbst, auf die wechselnden Lebensbedingungen, das gr??ere oder geringere Ma? von Freiheit, von Wohlfahrt, von Begünstigungen, die die Natur gew?hrt oder die durch vornehmliche Kraft, Tapferkeit, durch Flei? oder Glück erworben wurden; man kann in einem so reichen, ja unendlich scheinenden Organismus, wie es eine Nation ist, eine unendliche Vielfalt und Variabilit?t der Lebenskristallisationen feststellen, und doch wird die Nation in ihrer Gesamtheit gegen eine andere, sei es auch benachbarte, sogar verwandte Nation ein v?llig verschiedenes Lebens- und Wesensbild zeigen. Es eignet eben jeder Nation, genau wie jedem einzelnen, ihr besonderes Fundament, ihre besondere Willenskraft, ihre besonderen Ziele, und in der Zusammenfassung erleidet sie jenes Schicksal, zu dem ihr Charakter den Grund legt.
Der Deutsche ward nicht in einem Garten geboren, die Natur hat ihn nicht verschwenderisch beschenkt. Die Berichte aus der Vorzeit erz?hlen schon von dem rauhen Klima und der Kargheit des Landes, das seine Bewohner zu unermüdlicher Arbeit aufforderte und durch überflu? nicht verw?hnte. Seitdem ist die Erde williger geworden, die Atmosph?re milder, aber die Fülle oder nur die unerwartete Gabe hat der Bauer nie erfahren, der G?rtner, der Obstzüchter nie; genau nach dem Ma? seines Tuns ward ihm gelohnt.
Das Leben des Urvolks war gewi? dem Kindheitszustand aller andern V?lker ?hnlich; an den Grenzen finden die Feinde nur wenig natürliche Hindernisse; kriegerische Horden, von Osten und Westen her eindringend, zerstampfen die Saaten, verwüsten die Siedlungen; kann der Aufruf des Fürsten Bewaffnete genug erreichen und sammeln, so zieht er dem Bedroher entgegen und stellt ihn in freier Feldschlacht; ist er zu solchem Unternehmen zu schwach, so verschanzen sich die Mannen in ihren festen Pl?tzen. Immerhin mu?te der Deutsche als Bewohner des Herzlands Europas mehr als andre drauf gefa?t sein, da? alles, was er baute und schuf, was er s?te und sparte, was er liebte und schmückte, seine B?ume und sein Vieh, sein Heim und seine Kinder, sein Land und alle Werke darin, die Beute von schweifenden Eroberern wurde.
Aber da eine feste politische Grenze nicht vorhanden war, konnte jeder Nachbar jederzeit zum Gegner, der Freund von gestern zum Feind von morgen werden. Die Folge davon, eine immer gr??ere Zerstückelung des Gebiets, eine best?ndige Lostrennung einzelner Teile, die sich dann zu selbstwilligen und der Gesamtheit trotzig entgegengesetzten Interessensph?ren entwickeln, trat gar bald ein und enthüllte sich als ein nationales Unglück. Um das Jahr 1200 war ganz Deutschland der Schauplatz aufreibender egoistischer K?mpfe und eines Faustrechts, das jeden Besitz und jede friedliche Arbeit gef?hrdete. Um ihren Handel zu schützen, auf welchem allein der Wohlstand, ja die Existenz des Bürgertums beruhte, mu?ten die St?dte zu Mitteln greifen, die sie auch als wehrhafte Macht in Achtung setzten, und nach und nach wurde jede Stadt, auch die nicht reichsfreie, zu einer Art von Republik. Da entstand nun die sch?nste und eigentümlichste Blüte der Volkskraft, ein best?ndiges inneres Wachstum bis in die Zeit der Reformation. Die gro?en Schwurgesellschaften übernahmen den Schutz des Privatlebens und ersetzten so den Staat, alle einzelnen traten in Genossenschaften zusammen, und diese wieder standen durch Bünde gegeneinander.
Drohende Gefahr macht Wachsamkeit zur ersten Tugend. Ordnung mu? die Vielzahl ersetzen, Zucht ist das Gebot, das die Freiheit f?rdert. Der Mann ist K?nig in seinem Haus, Diener in brüderlichen Verb?nden. Nur Arbeit verleiht Würde, nur Bew?hrung einen Vorrang, und ohne Hingebung an eine Sache wird der Geist für nichts geachtet. Wenn aber der Geist sich zur Sachlichkeit gesellt, entsteht die Idee, die das Individuum formt und das Gemeinwesen entwicklungsf?hig macht. Welche Wege auch immer der Ritter, der Junker, der Gutsherr, der Bauer einschlug, die Zukunft der Nation lag in den H?nden des Bürgers.
Fast jede Stadt hatte etwas trotzig Ernstes, ja Finsteres; ihre H?user dr?ngten sich wie M?nner, die Achsel an Achsel stehen, so dicht zusammen, da? für ein Blumenbeet der Raum nicht blieb. Die spitzgiebeligen D?cher erschienen als Wahrzeichen der zur H?he gedr?ngten Kraft, die engen Gassen gaben das Gefühl der Umschlossenheit, und alles Schmuckwerk wuchs gleichsam aus der Not: die Zierlichkeit massiver Gitter, die geschwungenen Steinquadern unerschütterlicher Brücken, die Feinheit und zarte Gliederung erhabener Dome, deren ursprünglich
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