Der niegeküßte Mund | Page 5

Jakob Wasserman
Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an
seiner Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um
Worte zu tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches
Geschick verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde
lustig, und etwas Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele
Zuckungen gingen über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen
Punkten zugleich. Dem Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer
gefährlichen Maschine. Siebengeist aber schlug einen weiten
Spaziergang vor, da ja heute Mittwoch sei. »Der ganze Nachmittag
liegt vor Ihnen«, sagte er. »Gehen wir ein wenig hinaus in den Schnee.«
Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein
Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu
erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des
Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum.
»Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen?
Erklären Sie sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein
altes Weib. Alles, was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein
Theater ist jetzt wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und
Lasalle. Der Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische
Reich auf. Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die
Stunden sind euch nichts.«
Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts
Erschreckenderes für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt

wie Wasser. Das Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im
Wesen seines Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile
schwieg Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiß und still dehnten
sich die ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom
Nebel verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten
und Krähenfüße sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar
mit schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und
Sausen, hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen
ringsumher.
»Sind Sie verheiratet?« fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter.
»Nein? Sind Sie verliebt?«
Der Lehrer wurde blaß und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist
lachte hell wie ein Kind. »Waren Sie je verliebt? Wissen Sie,
Onkelchen, man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn
man nicht wüßte, daß Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie
verachten natürlich die Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt
ist. Haben Sie mal von einer gewissen Ninon de l'Enclos gehört? Ein
wundersames Frauenzimmer. Sie hat ganze Generationen mit Liebe
beschenkt. Ich war damals ein Gascognischer Prinz und in mancher
Nacht küßte ich die unsterblichen Lippen. Seitdem ist die Welt bitter
geworden. Onkelchen, was heutzutage sich Weib nennt, ist wert,
eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen gelernt, in dem nicht
die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind schlecht, eitel, feig,
anmaßend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen und sind mit
Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den
Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich
Sie, Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riß. Sehn Sie doch nur,
ein Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiß
nichts anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt
umher und gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich
gebe mir noch eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und
schmerzloses Gift.« Er lachte wieder fein kindliches Lachen.
Der Lehrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein Traum,
dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber,

auf dem ein Schnellzug einherraste. Er freute sich auf seine
Abendstunden, auf seine Chronik, auf seine stille Abgeschiedenheit.
Indessen forderte ihn der Provisor auf, mit ihm in einem Wirtshaus in
Altenmuhr zu essen, und noch viel weniger als früher wagte er es
abzuschlagen. Doch Siebengeist wurde merkwürdig schweigsam, ballte
nur hier und da Schnee zusammen und warf ihn auf die Baumkronen,
daß es knisterte. Dann lachte er und freute sich.
In der niedrigen, heißen Wirtsstube saßen Fuhrleute beim Bier.
Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte nachdenklich in
seinen weißen Zähnen, während der Lehrer tüchtig zugriff.
»Gelehrsamkeit stärkt den Magen«, bemerkte Siebengeist sarkastisch.
»Wissen Sie, was mir eingefallen ist? Ich forme mir eine Jungfrau aus
Schnee: schön, rein und klug. Ich gebe ihr das Herz eines treuen
Hundes und die Augen einer edlen Häßlichen, die in Verborgenheit
lebte. Das Ganze belebt, wäre ein Wunder an Vollkommenheit.«
Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, werden die
Kranken seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes Gemüt
begann sich zu empören. Er betrachtete den Provisor scharf von der
Seite und mußte sich gestehen, daß er ein schönes Gesicht habe, ein
intelligentes Auge, einen weichen, schwärmerischen Mund.
Auf dem Heimweg stockte jedes Gespräch. Die Ruhe der Natur war ein
Befehl zur Ruhe für die Wanderer. Schon begann das beschneite
Gelände bläulich zu schimmern. Wie schwärzliche Gestalten standen
die Bäume da, streckten die Äste verzweifelt gegen den Himmel.
Philipp Unruh
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