Der niegeküßte Mund | Page 4

Jakob Wasserman
hatte die dunkle
Empfindung, als müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel
ihm der Besitz der Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut
habe, sie erwerben zu können. Besonders den Umstand seiner Freude
und Erwartung wollte er betonen. Indessen haßte und verachtete er
gleichzeitig den fremden Eindringling, und in einer Aufwallung dieser
Gefühle bot er zehn Mark. Der Doktor machte ein faunisch entzücktes
Gesicht und eine triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte
beifällig und schnupfte geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte.
Jedoch andere Gesichter sah der Lehrer auf sich gerichtet, deren
prüfender Hohn ihn erschreckte, und als der Provisor nachlässig noch

weiter steigerte, verließ er schweren Schrittes den Raum mit den
Gefühlen eines Menschen, über den ein falscher Urteilsspruch ergangen
ist.
Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen
bedeckt. Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des
Lehrers. Auf einem Zaun, dessen Pfähle weiße, runde Kappen trugen,
saßen drei Spatzen und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden
an. Aus dem Schulhaus drang ein betäubender Lärm. Unter seiner
Ladentüre stand der Bäcker und schaute spöttisch lachend hinauf.
Kunigunde, die Wirtschafterin, begegnete ihm auf der Stiege und
kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte plötzlich freundlich, als ob er
mit jemand eine liebenswürdige Unterhaltung führte, doch schien es
ihm unzuvorkommend und bedrückend, daß dieser Jemand bildlos im
Raum verblieb.
Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul
ertönte, und Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern
Bestimmung geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine
Generalstabskarte verwandelt, war mit Hieroglyphen bedeckt. Die
Reiterei hatte sich des ganzen Globus bemächtigt, und ein dämonisch
kleiner Knabe saß auf dem Nordpol und fuchtelte mit beiden Armen.
Einige Amazonen hatten die Gegend des Katheders besetzt und sangen
Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der Schwelle stehen, schöpfte
Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in den Raum.
Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und schuldbewußt
an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf ihre Plätze.
Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine vom Nordpol
hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse zerrissen
und saß leichenblaß da. Indes begann der Lehrer zu diktieren: Der
Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Häßlichkeit des
Geizes eine große Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war groß.
Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das
aufregende Prozeßverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu
folgen pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges,
was den Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach.
Die Tür wurde heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat

herein. Er hatte ein dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das
Pult zu, legte den Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit
emporgezogenen Brauen: »Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte
Ihnen damit ein Geschenk machen. Hoffentlich haben Sie nichts
dagegen einzuwenden.« Er grüßte mit übertriebener Unbefangenheit,
doch mit schüchternem Blick und ging.
Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch auf der dritten
Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und
konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh
war verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein
wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das
Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener
Wärme im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag es
stürmen, ich stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles.
Wie schön, wenn es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den
bläulichen Schnee, und kein Laut dringt aus der Erde.
Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und
bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon,
und der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem
Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann,
der einen großen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh
grüßte und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und
Kameradschaftliches in seinen Gruß zu legen.
»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen
ein Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da
ankündigen!«
Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte.
Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und
rieb die Hände.
»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den Zettelmann,
»habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?«
Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei mir ist die

Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er kurz und majestätisch.
»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist
erstaunt.
Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, sagte er
mit dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes.
Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel.
»Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß das Stück, ein Lebensbild
in zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten
neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf
und entfernte sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich
zum
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