Der goldene Spiegel | Page 9

Jakob Wasserman
Morgen sa? ich lange an seinem Bett, er hatte Vertrauen zu mir gefa?t und enthüllte mir, was ihn zu der Tat getrieben. Er war Student, fünfundzwanzig Jahre alt, Sohn verm?gender Eltern. Bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr hatte er, ich gebrauche seine eigenen Worte, gelebt wie ein Tier; leichtsinnig, verschwenderisch und in gewissenloser Verprassung von Zeit und Kr?ften. Sein Gemüt, ursprünglich zarter Regungen durchaus f?hig, war verh?rtet und abgerieben durch den best?ndigen Umgang mit Dirnen. Die Atmosph?re gemeiner Kneipen war ihm Bedürfnis und die Zudringlichkeit k?uflicher Weiber Gewohnheit geworden. Er wu?te kaum, wie anst?ndige Frauen sprechen, und in unreifer überhebung sah er in diesem Treiben die Krone der Freiheit. Da geschah es, da? er auf einer Ferienreise in ein vielbesuchtes Hotel kam und auf dem Schreibtisch seines Zimmers einen Brief fand, der unter L?schbl?ttern lag, unvollendet und sicher dort vergessen worden war. Er gab mir den Brief zu lesen, den er wie einen Talisman von der Stunde ab immer bei sich getragen, der sein Leben ver?ndert und zuletzt noch seinen Tod verschuldet hatte. Wie der Inhalt zu schlie?en erlaubte, war das Schreiben von einem jungen M?dchen und an einen Freund gerichtet. Man kann sich etwas Ergreifenderes nicht denken. Furcht vor Armut und Schande, vor v?lliger Verlassenheit, Beteuerung vergeblicher Anstrengungen, Züge menschlicher Habsucht, H?rte und Niedertracht, entdeckt von einem Wesen, das gl?ubig war und das noch immer, obwohl mit schwindendem Gefühl, auf eine wohlmeinende Vorsehung baute, das war der Text in dürren Worten, die nichts von der tiefen und natürlichen Beredsamkeit eines verzweifelnden Herzens ahnen lassen. Die Frage nach der Unbekannten war umsonst, sie war nicht einmal gemeldet worden, die Bediensteten des Hauses konnten ihm keinerlei Auskunft geben und wiesen auf den gro?en Verkehr n?chtigender G?ste hin. Anhaltspunkte über Namen und Wohnort enthielt der Brief nicht, und dem jungen Mann war zumut, als h?tte er eine Stimme von einem unerreichbaren Stern vernommen. Es ergriff ihn eine brennende Unruhe, und durch Sehnsucht wurde er geradezu entnervt. Da? der Brief zu ihm gelangt war, erschien ihm als Fügung und Aufforderung zugleich; da? es eine Frau in der Welt gab, die so beschaffen war, so zu empfinden, so zu leiden vermochte, war ihm neu und erschütterte die Fundamente seines Lebens. Er studierte den Brief wie ein Egyptolog einen Papyrus, suchte Hindeutungen auf einen bestimmten Dialekt, auf eine bestimmte Sph?re der Existenz. Jede Silbe, jeder Federzug wurde ihm allm?hlich so vertraut, da? sich ein Charakterbild der Schreiberin immer fester gestaltete, da? er ein Antlitz sah, die Geberde, das Auge, da? er die Stimme zu h?ren glaubte, eine Stimme, die ihn ohne Unterla? rief. Er reiste von einer Stadt in die andere, wanderte tagelang durch Stra?en, um Gesichter von Frauen und M?dchen zu finden, die dem ertr?umten Gesicht der Unbekannten ?hnlich sein konnten, ging zu Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, ver?ffentlichte Inserate in den Zeitungen und entfremdete sich seinen Freunden, seinen Eltern, seiner Heimat, seinem Beruf. In fatalistischem Wahn sagte er sich: unter den Millionen, die diesen Teil der Erde bev?lkern, lebt sie; es ist meine Bestimmung, sie zu treffen; warum sollte ich nicht, wenn ich alle meine Sinne in der Begierde sammle? Unter den Tausenden, an denen ich t?glich vorübergehe, wei? vielleicht einer von ihr; mein Wille mu? so stark, mein Gefühl so elementar, mein Instinkt so untrüglich werden, da? ich den einen spüre und mir durch die Millionen einen Weg zu ihr bahne; mi?lingt es, so bin ich ein Zwitterding und nicht wert, geboren zu sein. Im Verlauf der Jahre wurde er schwermütig, auch ermattete wohl das Ungestüm seines Verlangens; es l??t sich ja denken, da? sich die Natur einer so best?ndigen Anspannung der Seelenkr?fte widersetzt. Nur sein Wandertrieb wurde nicht geringer, und so kam er denn auf einer Fahrt vom Norden her in jenen m?hrischen Ort, wo er den Zug verlie?, weil ihm pl?tzlich vor der abendlichen Ankunft in der gro?en Stadt, vielem Licht, vielem L?rm und vielen Menschen graute. W?hrend er traurig und müde durch die dunklen Gassen schlich, gewahrte er am Fenster eines ziemlich abgelegenen Hauses ein altes Weib, das den Sims belagert hielt und ihn einzutreten bat. Er folgte willenlos und ohne Bedacht, als sei er an dem Punkt seines Lebenskreises angelangt, von dem er einst ausgegangen. In der Stube sah er sich einigen M?dchen gegenüber, denen er ohne Anteil beim Wein Gesellschaft leistete, und unter denen eine durch stumme Lockung ihn seiner Apathie zu entrei?en vermochte, so da? er mit ihr ging. Es war alles so still in mir, sagte er, und als ich die elende Treppe hinaufstieg, war es, wie wenn dies nur eine Sinnest?uschung sei und ich in Wirklichkeit hinuntergezogen würde, immer tiefer bis ans letzte Ende der Welt. Als er das M?dchen bezahlen wollte, entfiel seiner Ledertasche der Brief; ein totes Ding, das leben und sprechen wollte, das den Augenblick der Entscheidung abgewartet hatte wie ein geheimnisvoller Richter. Das
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