Der Wendekreis - Zweite Folge | Page 9

Jakob Wasserman
an. Dietrich schaute ihm entrüstet ins Gesicht. Das war unerwartet. Worauf zielte er hin? Was er im Denken kaum noch zu berühren sich unterfangen, das Gehütete, dieser Irgendwer ri? es aus ihm heraus und wies mit Fingern hin. Im Innern war eine vorher nicht gespürte Last, ohne die es sch?ner und bunter zu leben war. Die ehrenkr?nkende Bezichtigung gab ihm das Wort ein, da? es geschehen sei, habe niemand zu kümmern, es w?re ihm nie in den Sinn gekommen, darüber zu reden, und er begreife nicht, mit welchem Recht man ihn verd?chtige. Nun, nun, bes?nftigte Rottmann, es habe ja nichts weiter auf sich, er glaube ihm natürlich, mehr habe er nicht gewollt, als da? Oberlin den Vorgang einr?ume, das Gest?ndnis vor einem Zeugen genüge ihm vollst?ndig. Er nickte den beiden zu und entfernte sich.
?Was hat das zu bedeuten?? fragte Oberlin erstaunt. Kurt Fink zuckte die Achseln und sah verlegen aus.
Georg Mathys hielt es für geraten, Oberlin zu warnen. ?Du solltest dich nicht mit Kurt Fink einlassen?, sagte er noch am selben Abend zu ihm. Dem sei nicht zu trauen, dem Unsichern, sich selbst Gef?hrlichen. Drau?en habe er schlechte Streiche gemacht, sei von der Prima relegiert worden; ihn aufzunehmen habe sich von der Leyen lange gestr?ubt und nur auf inst?ndiges Bitten der Eltern nachgegeben. Als er ihn einmal in Obhut gehabt, sei ihm auch Pflicht daraus erwachsen, er mache sichs ja mit keinem leicht. Eine Zeitlang habe er sich besonders angelegentlich mit ihm besch?ftigt, es h?tte geschienen, als sei Fink ein anderer geworden. Da habe eines Tages der Bürgermeister im Dorf drüben sich beschwert, da? er in unversch?mter Manier den M?gden und Bauernt?chtern nachstelle, und daraufhin habe sich Lucian von ihm abgewendet. Seitdem habe er sich aufs?ssig gezeigt, r?nkevoll, und auf eine Lüge mehr oder weniger k?me es ihm nicht an. übrigens sei es das letzte Semester für ihn, er wolle sich in einer Presse für die Matura vorbereiten.
Die jungen Menschen wagen es nicht, sich gegeneinander klar zu entscheiden. Oberlin fühlte sich keineswegs wohl mit Kurt Fink, aber er mied ihn nicht. Es war da etwas Anziehendes wie ein Wasser, dessen Tiefe man kennen mu?te; das fremdere Wort, der verwegenere Sinn, der verratende Blick. Er suchte ihn nicht, aber er lie? sich finden. Er ?ffnete sich nicht, aber er lieh ihm Geh?r. H??liches wurde verführerisch, und er hatte Furcht. Die Stunde barst von Geheimnissen. Hinter dem Wirklichen stand ein schattenhaft Verhülltes. Es war ein Wühlen in der Erde und ein Brausen in den Wolken. Schlaf qu?lte. Der Duft der Akazien war wie best?ndiger Orgelton. Wenn der Kuckuck schrie, zitterte man. Drei, vier Tage kamen, so voll Ahnung, Hindr?ngen, Ertasten, Erwünschen, da? Buch und Lehre verstummten. Auch mit den andern schien es so zu stehen; ihre feuchteren Blicke, ihre unruhigeren H?nde lie?en es wissen; in der Nacht richtete sich einer auf und rief ein Wort in die Dunkelheit; am Morgen waren manche Augen hohl und Lippen bla?.
Oberlin suchte Lucians N?he; wenn er Fink verlassen hatte, spürte er es wie Durst nach Lucian. Doch Lucian schien bedr?ngt. Es war bisweilen, als horche er, warte er; nicht auf Gutes, die Stirn hatte die finstere Falte. Er schützte geh?ufte Arbeit vor, um einem Zusammensein auszuweichen, aber im Druck seiner Hand war die herzlichste Versicherung. Es war seine Art nicht, sich zurückzunehmen, doch wenn ihm Oberlin wortlos das Herz entgegentrug, richtete sein Auge eine Schranke auf.
Denn er verzieh sich jene Sekunde der Selbstvergessenheit nicht. Er ma?te sich das Recht nicht an, die Schale um die Menschenbrust zu sprengen; was konnte er tun, um Schutz zu bieten, die unbegrenzte Verhei?ung zu erfüllen? Er hatte sein Gesetz übertreten, preisgegeben, was zu bewahren war, sich an ein Gefühl verraten, das Mysterium entsiegelt; das forderte Umkehr und Entsagung. Oberlin wurde ihm wie ein geliebtes Bild, das man besitzt, um es zu verschlie?en.
Aber in der Gemeinschaft, wo er Lehrer und Führer war, gab es doch immer ein Zeichen, das nur für Oberlin bestimmt war, Worte, die nur ihm allein galten. Dietrich mu?te freilich fein und wachsam sein, damit sie ihm nicht entgingen; das brachte Spannung in sein ganzes Wesen; Spannung wuchs ins Unertr?gliche, so da? er dann das leichte Opfer des Verführers wurde, der das Netz um ihn wob. So geschah es auch am dritten Tag, nachdem der Pr?fekt Rottmann Hochlinden verlassen hatte; es war wolkenloser Himmel, und Lucian hatte beschlossen, die Geschichtsstunde mit einer Wanderung gegen den Belchen zu verbinden. Die vierzehn Z?glinge umgaben ihn wie junge Paladine; Georg Mathys mit dem gelassenen Schritt ging an seiner Rechten, Peter Ulschitzky zur Linken. Seine Heiterkeit hatte einen ihr sonst nicht eigenen Glanz, als spüre er das über ihm schwebende Verh?ngnis schon und wolle nicht mit sich sparen, alles von sich schenken. Er war voll geistiger Laune, jedes Thema hatte hundert Nebenwege und Aspekten, jeder Name erh?hte sich zur Figur. über Friedrich
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