Der Wendekreis - Erste Folge | Page 4

Jakob Wasserman
ist, so nannten Sie es ja, der Mensch ohne Partei, ohne Meinung fast, dem alles Leben zur Speise wird, ist das denn nicht mehr das Gesetz, dem Sie sich dem��tig beugen, wie Sie immer getan haben??
M?rner senkte den Kopf, und als er antwortete, war es ihm, als stehe er nicht der sanften Fragerin Rede, sondern der verborgenen Person, die er im Zimmer wu?te. ?Widerst?nde k?nnen wachsen,? sagte er; ?es ist jedesmal ein harter Weg dorthin, in die obere Welt; eines Tages sind die Schranken un��bersteiglich. Die Kraft reicht nicht mehr zu; der Mut ist nicht mehr da. Werkt?tigkeit beruht auf Wechselwirkung. Das Leben ist meine Speise, freilich; wenn aber die Speise faulig wird, wie dann? Wenn die Augen nicht mehr sehen k?nnen, das innere Membran nicht mehr erzittert, das Bild nicht mehr zu fassen ist, das Gef��hl seine Sicherheit einb��?t? Wie dann? Beide Welten, die obere und die untere sind mir zu Schemen verbla?t. Ich kann nichts mehr greifen, es bleibt mir nichts in der Hand, ich bin zur Ohnmacht verurteilt, ich bin ein Selbst geworden.?
Er l?chelte traurig, zuckte die Achseln und schwieg. Sein Ohr lauschte in die Richtung, wo der Unsichtbare sa?. Der aber verriet seine Gegenwart durch keinen Laut und keine Bewegung. Als das junge M?dchen sich zum Fl��gel setzte und ein Bachsches Pr?ludium zu spielen begann, schien er seinen Platz zu ver?ndern.
M?rner wollte die Freunde durch seine Gegenwart nicht l?nger bedr��cken und entfernte sich still. Durch die mittern?chtlich ver?deten Stra?en trat er den Heimweg an, doch war ihm nicht wohl zumute bei der Aussicht auf Alleinsein in seinem Hause.
* * * * *
Er h?rte Schritte hinter sich, eine Weile schon. Es folgte ihm jemand.
Die Luft war mild, das Gew?lbe bis in die Unendlichkeit umschleiert. In der Dunkelheit wuchtete Ahnung, die die Seele zusammenpre?te und sie aufsteigen machte gleich einer artesischen S?ule. Er erinnerte sich solcher N?chte aus seiner J��nglingszeit. Es waren dieselben flaums��chtigen Wolken gewesen, damals, in der Stadt seines Elends, mitten im Herzen Deutschlands, dieselbe bitters��?e Feuchtigkeit in der Atmosph?re, dasselbe heimliche S?useln und Brodeln in der Erde. Warum war ihm das L?ngstvergangene heute nah? K��ndigte sich Pr��fung an und neue qu?lende ��berschau? Parade ��ber die Truppen vor der Abdankung? Ein Laut war wie Vogelruf, genau wie damals aus dem Geb��sch am tr��ben Flu?, der die Fabrikw?sser f��hrte. Aber damals war es Verhei?ung gewesen, heute war es Verzicht; damals Ankunft, heute Abschied; damals hatte Romantik um die verschlossenen Tore und schwarzen Fenster geschauert, heute das frostige Wissen. Drei Jahrzehnte vergeblichen Wegs in eine Sackgasse!
Er ging langsamer; der ihm folgte, verz?gerte ebenfalls den Schritt. Er ist es, durchfuhr es M?rner, und seine erste Regung war, zu fliehen. Doch trotzte er ihr; an einer Ecke unter einer Gaslaterne blieb er stehen. Der andere kam heran, l��pfte den steifen niedern Hut und sagte leise: ?Guten Abend.?
Es war ein Mann von nicht genau bestimmbarem Alter; Mitte der Drei?ig ungef?hr; jugendlich schlank, aber in der Haltung etwas schlaff und im Gang schleppend. Soviel sich im ungewissen Licht ausnehmen lie?, waren die Haare blond. Die Kleidung war adrett, obwohl ein wenig abgetragen. Das bartlose Gesicht war auffallend hager, mit tiefliegenden blauen Augen und erstaunlich scharfen Kerben um den Mund. Alles in allem war es ein sch?nes, zumindest ein sch?n gewesenes Gesicht, das nichts Vulg?res an sich hatte.
?Ich hoffe, Sie nicht zu st?ren,? sagte der Unbekannte mit achtungsvoller Artigkeit, die den Mann von Erziehung verriet; ?wir haben den n?mlichen Weg, scheint es; darf ich Sie begleiten??
M?rner verbeugte sich k��hl. Er z��rnte sich wegen der Beklommenheit, die er empfand. Seite an Seite setzten sie den Weg fort.
Der Unbekannte sagte: ?Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich nicht vorstelle; aber ich habe keinen Namen. Ich mache wenigstens schon lange keinen Gebrauch mehr von ihm. Nur im Notfall nenne ich mich, so oder so; es gibt ja zwingende Situationen; ich sch��tze dann einen erfundenen Namen vor. Ich denke, Sie legen auf diese Formalit?t kein Gewicht.?
Immerhin ein merkw��rdiger Geselle, dachte M?rner und sah geradeaus auf das Pflaster. So auch, vor sich hin, erkundigte er sich: ?Sie sind fremd in der Stadt? Seit kurzem erst hier, wenn ich fragen darf?? Er ist es, dachte er wieder, und mit einer Anwandlung von Ha?: wozu die gezierten Vorbereitungen? weshalb spielt er Verstecken mit mir? was ist seine Absicht?
?Ja, ich bin fremd,? gestand der Herr mit seiner leisen, freundlich und r��cksichtsvoll klingenden Stimme; ?aber daran bin ich gew?hnt. Ich bin eigentlich ��berall fremd. Das hei?t, obenhin betrachtet, bin ich fremd, genau genommen nicht. Ich reise fortw?hrend, wissen Sie, bin immer wo anders, ohne festes Domizil. Ich liebe es nicht, Aufenthalt zu nehmen. Wenn man sich aufh?lt, entstehen Vers?umnisse. Viele Jahre bin ich schon unterwegs, und es ist manchmal schwer, der M��digkeit nicht nachzugeben. Aber wir wollen nicht von mir sprechen. An mir ist nichts interessant. Sie werden es mir nicht ver��beln,
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