Der Tod in Venedig | Page 7

Thomas Mann
Gruppe junger Leute bildete die Reisegesellschaft
des ersten Verdecks, Polenser Handelsgehülfen, wie es schien, die sich
in angeregter Laune zu einem Ausflug nach Italien vereinigt hatten. Sie
machten nicht wenig Aufhebens von sich und ihrem Unternehmen,
schwatzten, lachten, genossen selbstgefällig das eigene Gebärdenspiel
und riefen den Kameraden, die, Portefeuilles unterm Arm, in
Geschäften die Hafenstraße entlang gingen und den Feiernden mit dem
Stöckchen drohten, über das Geländer gebeugt, zungengeläufige
Spottreden nach. Einer, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem
Sommeranzug, roter Krawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat
sich mit krähender Stimme an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor.
Kaum aber hatte Aschenbach ihn genauer ins Auge gefaßt, als er mit
einer Art von Entsetzen erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war

alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und
Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune
Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals
verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege
am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiß, das er lachend
zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden
Zeigefingern, waren die eines Greises. Schauerlich angemutet sah
Aschenbach ihm und seiner Gemeinschaft mit den Freunden zu.
Wußten, bemerkten sie nicht, daß er alt war, daß er zu Unrecht ihre
stutzerhafte und bunte Kleidung trug, zu Unrecht einen der Ihren spielte?
Selbstverständlich und gewohnheitsmäßig, wie es schien, duldeten sie
ihn in ihrer Mitte, behandelten ihn als ihresgleichen, erwiderten ohne
Abscheu seine neckischen Rippenstöße. Wie ging das zu? Aschenbach
bedeckte seine Stirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß
waren, da er zu wenig geschlafen hatte. Ihm war, als lasse nicht alles
sich ganz gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung,
eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der
vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig
verdunkelte und aufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick
jedoch berührte ihn das Gefühl des Schwimmens, und mit
unvernünftigem Erschrecken aufsehend, gewahrte er, daß der schwere
und düstere Körper des Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer
löste. Zollweise, unter dem Vorwärts-und Rückwärtsarbeiten der
Maschine, verbreitete sich der Streifen schmutzig schillernden Wassers
zwischen Quai und Schiffswand, und nach schwerfälligen Manövern
kehrte der Dampfer seinen Bugspriet dem offenen Meere zu.
Aschenbach ging nach der Steuerbordseite hinüber, wo der Bucklige
ihm einen Liegestuhl aufgeschlagen hatte und ein Steward in fleckigem
Frack nach seinen Befehlen fragte.
Der Himmel war grau, der Wind feucht; Hafen und Inseln waren
zurückgeblieben, und rasch verlor sich aus dem dunstigen
Gesichtskreise alles Land. Flocken von Kohlenstaub gingen, gedunsen
von Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, das nicht trocknen wollte.
Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu
regnen begann.
In seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende,
und die Stunden verrannen ihm unversehens. Es hatte zu regnen

aufgehört; man entfernte das leinene Dach. Der Horizont war
vollkommen. Unter der breiten Kuppel des Himmels dehnte sich rings
die ungeheure Scheibe des öden Meeres; aber im leeren, ungegliederten
Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im
Ungemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der
Ziegenbart aus dem Schiffsinnern, gingen mit unbestimmten Gebärden,
mit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er
schlief ein.
Um Mittag nötigte man ihn hinab, damit er in dem korridorartigen
Speisesaal, auf den die Türen der Schlafkojen mündeten, zu Häupten
eines langen Tisches, an dessen unterem Ende die Handelsgehülfen,
einschließlich des Alten, seit zehn Uhr mit dem munteren Kapitän
pokulierten, die bestellte Mahlzeit nähme. Sie war armselig, und er
beendete sie rasch. Es trieb ihn ins Freie, nach dem Himmel zu sehen:
ob er denn nicht über Venedig sich erhellen wollte.
Er hatte nicht anders gedacht, als daß dies geschehen müsse, denn stets
hatte die Stadt ihn im Glanze empfangen. Aber Himmel und Meer
blieben trüb und bleiern, zeitweilig ging neblichter Regen nieder, und
er fand sich darein, auf dem Wasserwege ein anderes Venedig zu
erreichen, als er, zu Lande sich nähernd, je angetroffen hatte. Er stand
am Fockmast, den Blick im Weiten, das Land erwartend. Er gedachte
des schwermütig-enthusiastischen Dichters, dem vormals die Kuppeln
und Glockentürme seines Traumes aus diesen Fluten gestiegen waren,
er wiederholte im Stillen einiges von dem, was damals an Ehrfurcht,
Glück und Trauer zu maßvollem Gesange geworden, und von schon
gestalteter Empfindung mühelos bewegt, prüfte er sein ernstes und
müdes Herz, ob eine erneuernde Begeisterung und Verwirrung, ein
spätes Abenteuer des Gefühles dem fahrenden Müßiggänger vielleicht
noch vorbehalten sein könne.
Da tauchte zur Rechten die flache Küste auf, Fischerboote belebten das
Meer, die Bäderinsel erschien, der Dampfer ließ sie zur Linken, glitt
verlangsamten Ganges durch den schmalen Port, der nach ihr benannt
ist, und auf der Lagune, angesichts bunt armseliger Behausungen hielt
er ganz, da die Barke des Sanitätsdienstes erwartet werden mußte.
Eine Stunde verging, bis sie erschien.
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