Der Tod in Venedig | Page 6

Thomas Mann
wenig zu groß im Verhältnis zu der fast
zierlichen Gestalt. Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel
gelichtet, an den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine
hohe, zerklüftete und gleichsam narbige Stirn. Der Bügel einer
Goldbrille mit randlosen Gläsern schnitt in die Wurzel der gedrungenen,
edel gebogenen Nase ein. Der Mund war groß, oft schlaff, oft plötzlich
schmal und gespannt; die Wangenpartie mager und gefurcht, das
wohlausgebildete Kinn weich gespalten. Bedeutende Schicksale
schienen über dies meist leidend seitwärts geneigte Haupt
hinweggegangen zu sein, und doch war die Kunst es gewesen, die hier
jene physiognomische Durchbildung übernommen hatte, welche sonst
das Werk eines schweren, bewegten Lebens ist. Hinter dieser Stirn
waren die blitzenden Repliken des Gesprächs zwischen Voltaire und
dem Könige über den Krieg geboren; diese Augen, müde und tief durch
die Gläser blickend, hatten das blutige Inferno der Lazarette des
Siebenjährigen Krieges gesehen. Auch persönlich genommen ist ja die
Kunst ein erhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher. Sie
gräbt in das Antlitz ihres Dieners die Spuren imaginärer und geistiger
Abenteuer, und sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des äußeren
Daseins, auf die Dauer eine Verwöhntheit, Überfeinerung, Müdigkeit
und Neugier der Nerven, wie ein Leben voll ausschweifendster
Leidenschaften und Genüsse sie kaum hervorzubringen vermag.

Drittes Kapitel
Mehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den
Reiselustigen noch etwa zwei Wochen nach jenem Spaziergang in

München zurück. Er gab endlich Auftrag, sein Landhaus binnen vier
Wochen zum Einzuge instandzusetzen und reiste an einem Tage
zwischen Mitte und Ende des Mai mit dem Nachtzuge nach Triest, wo
er nur vierundzwanzig Stunden verweilte und sich am nächstfolgenden
Morgen nach Pola einschiffte. Was er suchte, war das Fremdartige und
Bezuglose, welches jedoch rasch zu erreichen wäre, und so nahm er
Aufenthalt auf einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria,
unfern der istrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in
wildfremden Lauten redendem Landvolk und schön zerrissenen
Klippenpartien dort, wo das Meer offen war. Allein Regen und schwere
Luft, eine kleinweltliche, geschlossen österreichische Hotelgesellschaft
und der Mangel jenes ruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das
nur ein sanfter, sandiger Strand gewährt, verdrossen ihn, ließen ihn
nicht das Bewußtsein gewinnen, den Ort seiner Bestimmung getroffen
zu haben; ein Zug seines Innern, ihm war noch nicht deutlich, wohin,
beunruhigte ihn, er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend
umher, und auf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich,
stand ihm sein Ziel vor Augen. Wenn man über Nacht das
Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen
wünschte, wohin ging man? Aber das war klar. Was sollte er hier? Er
war fehlgegangen. Dorthin hatte er reisen wollen. Er säumte nicht, den
irrigen Aufenthalt zu kündigen. Anderthalb Wochen nach seiner
Ankunft auf der Insel trug ein geschwindes Motorboot ihn und sein
Gepäck in dunstiger Frühe über die Wasser in den Kriegshafen zurück,
und er ging dort nur an Land, um sogleich über einen Brettersteg das
feuchte Verdeck eines Schiffes zu beschreiten, das unter Dampf zur
Fahrt nach Venedig lag.
Es war ein betagtes Fahrzeug italienischer Nationalität, veraltet, rußig
und düster. In einer höhlenartigen, künstlich erleuchteten Koje des
inneren Raumes, wohin Aschenbach sofort nach Betreten des Schiffes
von einem buckligen und unreinlichen Matrosen mit grinsender
Höflichkeit genötigt wurde, saß hinter einem Tische, den Hut schief in
der Stirn und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, ein
ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen
Zirkusdirektors, der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebaren die
Personalien der Reisenden aufnahm und ihnen die Fahrscheine
ausstellte. »Nach Venedig!« wiederholte er Aschenbachs Ansuchen,

indem er den Arm reckte und die Feder in den breiigen Restinhalt eines
schräg geneigten Tintenfasses stieß. »Nach Venedig erster Klasse! Sie
sind bedient, mein Herr!« Und er schrieb große Krähenfüße, streute aus
einer Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne
Schale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern
und schrieb aufs neue. »Ein glücklich gewähltes Reiseziel!« schwatzte
er unterdessen. »Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt! Eine Stadt von
unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer
Geschichte sowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen!« Die glatte
Raschheit seiner Bewegungen und das leere Gerede, womit er sie
begleitete, hatten etwas Betäubendes und Ablenkendes, etwa als
besorgte er, der Reisende möchte in seinem Entschluß, nach Venedig
zu fahren, noch wankend werden. Er kassierte eilig und ließ mit
Croupiergewandtheit den Differenzbetrag auf den fleckigen Tuchbezug
des Tisches fallen. »Gute Unterhaltung, mein Herr!« sagte er mit
schauspielerischer Verbeugung. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu
befördern... Meine Herren!« rief er sogleich mit erhobenem Arm und
tat, als sei das Geschäft im flottesten Gange, obgleich niemand mehr da
war, der nach Abfertigung verlangt hätte. Aschenbach kehrte auf das
Verdeck zurück.
Einen Arm auf die Brüstung gelehnt, betrachtete er das müßige Volk,
das, der Abfahrt des Schiffes beizuwohnen, am Quai lungerte, und die
Passagiere an Bord. Diejenigen der zweiten Klasse kauerten, Männer
und Weiber, auf dem Vorderdeck, indem sie Kisten und Bündel als
Sitze benutzten. Eine
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