Der Mann im Mond | Page 9

Wilhelm Hauff
jetzt zur Ruhe legen; er schien es gar
nicht zu hören, schweigend warf er in der Haustüre den Mantel ab, gab
ihn dem Alten und eilte die Treppe hinan. Kopfschüttelnd folgte ihm
der Diener; hatte er doch seit einer langen, traurigen Zeit nicht bemerkt,
daß sein armer Herr Freude an rauschender Lustbarkeit hatte; es mußte
etwas Eigenes sein, das ihn noch einmal dahinauf zog; denn wenn er
sich sonst auch in das fröhlichste Gewühl gestürzt hatte, so war er doch
immer nach einem halben Stündchen wieder zurückgekommen. Und
heute hatte er ihn sogar an die Stunde mahnen müssen; heute ging er zu
einer Zeit, wo er sonst, erschöpft von Kummer und Unglück, dem
Schlaf in die Arme geeilt war, noch einmal auf den Tanzboden. "Gott
gebe, daß es zu seinem Heil ist!" schloß der treue Diener seine
Betrachtungen und wischte sich die Augen.
Der Saal war noch leer, als Emil oben eintrat, nur die Musikanten
stimmten ihre Geigen, probierten ihre Hörner und ließen die Schlegel
dumpf auf die Pauken fallen, um zu sondieren, ob das tiefe C recht
scharf anspreche; mittendurch netzten sie auch ihre Kehlen mit
manchem Viertel; denn ein ellenlanger Kotillon sollte den Ball
beschließen. Löffel- und Messergeklirr, das Jauchzen der Anstoßenden
tönte aus dem Speisesaal. Ein schwermütiges Lächeln zog über Emils
blasses Gesicht; denn er gedachte der Zeiten, wo auch er keiner
fröhlichen Nacht ausgewichen war, wo auch er unter frohen, guten
Menschen den Becher der Freude geleert und, wenn kein liebes Weib,
doch treue Freunde geküßt hatte und mit fröhlichem Jubel in das
allgemeine Millionenhallo und Welthurra der Freude eingestimmt hatte;
unter diesen Gedanken trat er in den Speisesaal. In bunten Reihen
saßen die fröhlichen Gäste die lange Tafel herab; man hatte soeben die
hunderterlei Sorten von Geflügel und Braten abgetragen und stellte
jetzt das Dessert auf. Gewiß, man konnte nichts Schöneres sehen, als

die Präzision, mit welcher die Kellner ihr Dessert auftrugen; die
Bewegungen auf die Flanken und ins Zentrum gingen wie am
Schnürchen, die schweren Zwölfpfünder der Torten und Kuchen, das
kleinere Geschütz der französischen Bonbons und Gelees werde mit
Blitzesschnelle aufgefahren; in prachtvoller Schlachtordnung, vom
Glanz der Kristallüsters bestrahlt, standen die Guß-, Johannisbeeren-,
Punsch-, Rosinentorten, die Apfelsinen, Ananas, Pomeranzen, die
silbernen Platten mit Trauben und Melonen. Aber Hofrat Berner hatte
sie auch eingeübt, und den ungeschicktesten Kellnerrekruten schwur er
hoch und teuer, in acht Tagen so weit bringen zu wollen, daß er, einen
bis an den Rand gefüllten Champagnerkelch auf eine spiegelglatte
silberne Platte gesetzt, die Treppe heraufspringen könne, ohne einen
Tropfen zu verschütten, was in der Geschichte des Servierens einzig in
seiner Art ist. Wenn die Festins, die er zu arrangieren hatte,
herannahten, hielt er auf folgende Art völlige Übungen und
Manoeuvres: Er setzte sich in den Salon, wo gespeist werden sollte,
ließ eine Tafel zu dreißig bis vierzig Kuverts decken, und wie den
Rekruten ein fingierter Feind mit allen möglichen Bewegungen
gegeben wird, so zeigte er ihnen auch Präsidenten, Justizräte,
Kollegiendirektoren, Regierungsräte und Assessoren mit Weib und
Tochter, Kind und Kegel und mahnte sie, bald diesem ein Stück Braten,
jener eine Sauciere zu servieren, bald einem Dritten und Vierten
einzuschenken und dem Fünften eine andere Sorte vorzusetzen; da
sprangen und liefen die Kellner sich beinahe die Beine ab;
aber--probatem est--wenn der Tag des Festes herannahte, durfte er auch
gewiß sein zu siegen. Wie jener große Sieger, der nur mit feierlichem
Ernst die Worte sprach: "Heute ist der Tag von Friedland!" oder "Sehet
die Sonne von Austerlitz!" so bedurfte es von seinem Munde auch nur
einiger ermahnenden, tröstlichen Hindeutungen auf frühere Bravouren
und gelungene Affären, und er konnte darauf rechnen, daß keiner der
zwanzig Kellnergeister über den andern stolperte oder ihm die
Aalpastete anstieß, aber daß sie mit Sauce und Salat einander anrannten,
purzelten und auf den Boden die ganze Bescherung servierten.
Mit dieser Präzision war also auch heute die Tafel serviert worden; der
Nachtisch war aufgetragen, die schweren Sorten, als da sind
Laubenheimer, Nierensteiner, Markobrunner, Hochheimer, Volnay,
feiner Nuits, Chambertin, beste Sorten von Bordeaux, Roussillon

würden weggenommen und der zungenbelebende Champagner
aufgesetzt. Hatte schon der aromatische Rheinwein die Zungen gelöst
und das schwärzliche Rot des Burgunders den Liliensammet der
jungfräulichen Wangen und die Nasen der Herren gerötet, so war es
jetzt, als die Pfröpfe flogen und die Damen nicht wußten, wohin sie
ihre Köpfe wenden sollten, um den schrecklichen Explosionen zu
entgehen, als die Lilienkelche, bis an den Rand mit milchweißem
Gischt gefüllt, kredenzt würden, wie auf einem Basar im asiatischen
Rußland, wo alle Nationen untereinander plappern und maulen, gurren
und schnurren, zwitschern und näseln, plärren und jodeln, brummen
und rasaunen, so schwirrte in betäubendem Gemurmel, Gesurre und
Brausen in den höchsten Fisteltönen bis herab zum tiefsten,
dreimalgestrichenen C der menschlichen Brust das Gespräch um die
Tafel.
* * * * *

DAS URTEIL DER WELT.
Aber der größte Teil der Konversation,
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