Der Landprediger | Page 9

Jakob Michael Reinhold Lenz
welche
bei ihm wohnte, nebst einem weiblosen Vetter, die alle nicht aus
Deutschland gekommen waren, hatten noch alle das Rauhe, Herbe und
Ungenießbare des Adelstolzes, der eben dadurch, weil er seinen Rang

andern fühlen läßt, alle Hochachtung, die sein Rang Vernünftigen
einflößen würde, zu Boden schlägt, und den gerechten Stolz aller edlen
Menschen wider sich empört, die ihm in jedem Augenblick die große
Wahrheit zurückzufühlen geben: Kein Mensch kann dafür, wie er
geboren ist.
Diese Art Leute beraubt sich aller wahren Schätze und Vorzüge des
Lebens. Ihre Verachtung wird von denen mit ihren grenzenden Ständen
mit Verachtung erwidert, und, weil sie vor ihren Obern nach ihrem
angenommenen Grundsatz wieder kriechen müssen, so sind sie
eigentlich die Allerverachtesten unter allen Menschenkindern. Rechnet
man dazu die Leerheit in der Seele, die dieses ewige Aufblähen ihrer
selbst verursacht, so wird man ihren Zustand, anstatt ihn zu beneiden,
in der Tat eher zu bedauren versucht werden.
Auf der andern Seite gibt es einen Stolz der niedern Stände, der ebenso
unerträglich ist. Das heißt, wenn sie einen gewissen Trotz, der zu nichts
führt, als alle Verhältnisse, die unter Menschen eingerichtet sind,
einzureißen, für die notwendigste Eigenschaft eines braven Menschen
halten, der sich, wie sie sagen, nicht unterdrücken läßt. Sie bedenken
nicht, daß eben dieser Stoß in die Rechte der andern einen Gegenstoß
veranlaßt, der gerade das macht, was sie Unterdrückung nennen, und
am Ende die traurige Spalte zwischen den beiden Ständen, ich meine
dem Adel und dem edlen Bürger zurückläßt, die einander doch so
unentbehrlich sind.
Wenn jeder Teil dem andern voraus hinlegte, was ihm gehört, würde
jeder Teil auch seinerseits sich zu bescheiden wissen, nicht mehr zu
fodern, und lieber aus Großmut etwas von seinen Rechten
fahrenzulassen, die ihm der andere aus eben dieser Großmut mit Zinsen
wieder bezahlte.
Der gnädige Herr empfing unsern Pfarrer nebst seiner Frau im
Speisesaal; die gnädige Frau nebst dem Fräulein ließen sich nicht eher
als nach ein Uhr sehen, da sie sich denn, nach einem kurzen
Kompliment von weitem, an ihre Plätze setzten, und überhaupt taten,
als ob sie der Besuch nicht anginge. Der gnädige Herr, der ein munterer
Mann war, setzte die Frau Pfarrerin zu sich; Pfarrer Mannheim ging

und nahm ungebeten seinen Platz zwischen der gnädigen Frau und dem
Fräulein, deren Antlitz sich mit Blut übergoß, weil eben dieser Platz
dem Vetter vom Hause bestimmt war. Sie geruhten wenig über Tisch
zu sprechen, aßen desto mehr, richteten das Gespräch aber immer an
den Herrn Onkel und Herrn Vetter, die wenig zu antworten wußten.
Pfarrer Mannheim mischte sich in alles mit seiner Beredsamkeit und
Weltkenntnis, und hatte bei jedem dritten Wort eine Gans auf der
Zunge. Das Wort Gans schlug so oft an die Ohren der gnädigen Frau,
daß sie in ihrem Innersten eine dunkle beklemmende Ahndung zu
spüren anfing, daß diese öftere Wiederholung ein und desselben Worts
kein bloßes Werk des Zufalls sein dürfte, und, wie denn kein Unglück
und keine Furcht allein geht, gesellte sich auch zu dieser ihrer Furcht
eine noch viel alpmäßig drückendere, es möchten andere in der
Gesellschaft eben dieselbe tolle Ahndung haben können; kurz, sie ward
so geschmeidig und freundlich gegen ihren Beisitzer, den Pfarrer
Mannheim, daß es einem Zuschauer, der von ungefähr dazugekommen
wäre, das Werk eines halben Wunders geschienen haben müßte. Sobald
sie einlenkte, ward Pfarrer Mannheim auch artiger, und gab ihr auf eine
feine Art zu verstehen, daß man einem vernünftigen Mann es durchaus
von selbst zutrauen müßte, daß er gegen das, was Wohlstand und
Verhältnisse erfoderten, nicht verstoßen werde, daß man ihn aber eben
dadurch, daß man dächte, er könne dies und jenes bei andern
Gelegenheiten mißbrauchen, in die Notwendigkeit setzte, falls er nicht
ein Pinsel wäre, sich bei allen möglichen Gelegenheiten mehr
herauszunehmen, als er sollte. "Und überhaupt", sagte er, "gibt das
einen peinlichen Umgang, wenn man in Gesellschaften nichts weiter zu
tun hat, als auf seiner Hut zu sein, dem andern nicht zu viel
einzuräumen."
"Ja, wenn der andere ein vernünftiger Mann ist", sagte der Onkel mit
einem sehr gnädigen Blick.
"Von dem rede ich nur", sagte der Pfarrer. "Sie trinken heute
nachmittag den Kaffee im Garten mit uns", sagte die gnädige Frau.
"Haben Sie den Almanach der Grazien gelesen?" fragte das Fräulein.
Diese Fragen kamen so unmittelbar aufeinander, daß er sie nicht anders

als mit einem ehrerbietigen Bückling und einem feinen Lächeln am
Munde beantworten konnte. Er sagte, er wollte den Nachmittag die
Gnade haben, der gnädigen Frau und dem gnädigen Fräulein einige
Zeichnungen von seinen Reisen in der Schweiz zu weisen, worunter
besonders die Gegenden des Pays de Vaux wären, die Rousseau in
seiner Heloise so meisterhaft geschildert.
"O Sie sind ein allerliebster Mann", sagte das Fräulein.
Die Tafel ward aufgehoben. Nun war der Damm eingerissen, der bisher
die Konversation gehemmet; alles floß in Geselligkeit und Scherz
und--Vertraulichkeit zusammen.
Eine harte Prüfung stand ihnen noch bevor.
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