Der Heizer | Page 2

Franz Kafka
über den ersten vergeblichen Versuch, sich
hinüberzuschwingen. Kaum war er aber im Bett, rief er: »Gottes Willen,
ich habe ja ganz meinen Koffer vergessen!« »Wo ist er denn?« »Oben
auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?« Und
er zog aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im
Rockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte. »Butterbaum, Franz
Butterbaum.« »Haben Sie den Koffer sehr nötig?« »Natürlich.« »Ja,
warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?« »Ich
hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen, ihn zu
holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich
auch noch verirrt.« »Sie sind allein? Ohne Begleitung?« »Ja, allein.«
»Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten,« ging es Karl durch
den Kopf, »wo finde ich gleich einen besseren Freund.« »Und jetzt
haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich
gar nicht.« Und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls
Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. »Ich glaube aber, der
Koffer ist noch nicht verloren.« »Glauben macht selig,« sagte der Mann
und kratzte sich kräftig in seinem dunklen, kurzen, dichten Haar, »auf
dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten. In Hamburg
hätte Ihr Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist
höchstwahrscheinlich von beiden keine Spur mehr.« »Da muß ich aber
doch gleich hinaufschaun,« sagte Karl und sah sich um, wie er
hinauskommen könnte. »Bleiben Sie nur,« sagte der Mann und stieß
ihn mit einer Hand gegen die Brust, geradezu rauh, ins Bett zurück.
»Warum denn?« fragte Karl ärgerlich. »Weil es keinen Sinn hat,« sagte
der Mann »in einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehen wir
zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe,
oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er ein Dummkopf
und soll weiter wachen, oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch und hat
den Koffer stehen gelassen, dann werden wir ihn, bis das Schiff ganz
entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch Ihren Regenschirm.«
»Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?« fragte Karl mißtrauisch und es
schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf dem
leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen

verborgenen Haken. »Ich bin doch Schiffsheizer,« sagte der Mann.
»Sie sind Schiffsheizer!« rief Karl freudig, als überstiege das alle
Erwartungen, und sah, den Ellbogen aufgestützt, den Mann näher an.
»Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowaken geschlafen habe,
war eine Luke angebracht, durch die man in den Maschinenraum sehen
konnte.« »Ja, dort habe ich gearbeitet,« sagte der Heizer. »Ich habe
mich immer so für Technik interessiert,« sagte Karl, der in einem
bestimmten Gedankengang blieb, »und ich wäre sicher später Ingenieur
geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.«
»Warum haben Sie denn fahren müssen?« »Ach was!« sagte Karl und
warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd
den Heizer an, als bitte er ihn selbst für das Nichteingestandene um
seine Nachsicht. »Es wird schon einen Grund gehabt haben,« sagte der
Heizer und man wußte nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses
Grundes fordern oder abwehren wollte. »Jetzt könnte ich auch Heizer
werden,« sagte Karl, »meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgültig, was
ich werde.« »Meine Stelle wird frei,« sagte der Heizer, gab im
Vollbewußtsein dessen die Hände in die Hosentaschen und warf die
Beine, die in faltigen, lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs
Bett hin, um sie zu strecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken.
»Sie verlassen das Schiff?« »Jawohl, wir marschieren heute ab.«
»Warum denn? Gefällt es Ihnen nicht?« »Ja, das sind die Verhältnisse,
es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens
haben Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich
nicht ernstlich daran, Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es
am leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in
Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht? Die
amerikanischen Universitäten sind ja unvergleichlich besser als die
europäischen.« »Es ist ja möglich,« sagte Karl, »aber ich habe ja fast
kein Geld zum Studieren. Ich habe zwar von irgendjemandem gelesen,
der bei Tag in einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat,
bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde, aber dazu gehört
doch eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem
war ich gar kein besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule
ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die Schulen hier sind
vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist
man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich.« »Haben Sie das

auch schon erfahren? Na, dann ist's gut. Dann sind Sie mein Mann.
Sehen Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der
Hamburg-Amerika-Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier?
Warum
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 17
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.