Der Arme Spielmann | Page 2

Franz Grillparzer

Stehenbleiben doch nur ein unvermerktes Weiterrücken ist, erscheint
auch diesem status quo ein Hoffnungsstrahl. Die ersten Bäume des
Augartens und der Brigittenau werden sichtbar. Land! Land! Land!
Alle Leiden sind vergessen. Die zu Wagen Gekommenen steigen aus
und mischen sich unter die Fußgänger, Töne entfernter Tanzmusik
schallen herüber, vom Jubel der neu Ankommenden beantwortet. Und
so fort und immer weiter, bis endlich der breite Hafen der Lust sich
auftut und Wald und Wiese, Musik und Tanz, Wein und Schmaus,
Schattenspiel und Seiltänzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu einem
pays de cocagne, einem Eldorado, einem eigentlichen Schlaraffenlande
vereinigen, das leider, oder glücklicherweise, wie man es nimmt, nur
einen und den nächst darauffolgenden Tag dauert, dann aber
verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der
Erinnerung zurückbleibt und allenfalls in der Hoffnung.
Ich versäume nicht leicht, diesem Feste beizuwohnen. Als ein
leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen, vorzüglich des Volkes, so
daß mir selbst als dramatischem Dichter der rückhaltslose Ausbruch
eines überfüllten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja
belehrender war als das zusammengeklügelte Urteil eines an Leib und
Seele verkrüppelten, von dem Blut ausgezogener Autoren spinnenartig
aufgeschwollenen literarischen Matadors; als ein Liebhaber der
Menschen, sage ich, besonders wenn sie in Massen für einige Zeit der
einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen fühlen, in
dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt--als einem solchen ist mir
jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine
Andacht. Wie aus einem aufgerollten, ungeheuren, dem Rahmen des
Buches entsprungenen Plutarch lese ich aus den heitern und heimlich
bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange, dem
wechselseitigen Benehmen der Familienglieder, den einzelnen halb
unwillkürlichen Äußerungen mir die Biographien der unberühmten
Menschen zusammen, und wahrlich! man kann die Berühmten nicht
verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat. Von dem
Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer,
aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in

der jungen Magd, die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber
seitab vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien,
die Didos und die Medeen.
Auch vor zwei Jahren hatte ich mich, wie gewöhnlich, den lustgierigen
Kirchweihgästen als Fußgänger mit angeschlossen. Schon waren die
Hauptschwierigkeiten der Wanderung überwunden und ich befand
mich bereits am Ende des Augartens, die ersehnte Brigittenau hart vor
mir liegend. Hier ist nun noch ein, wenngleich der letzte Kampf zu
bestehen. Ein schmaler Damm, zwischen undurchdringlichen
Befriedungen hindurchlaufend, bildet die einzige Verbindung der
beiden Lustorte, deren gemeinschaftliche Grenze ein in der Mitte
befindliches hölzernes Gittertor bezeichnet. An gewöhnlichen Tagen
und für gewöhnliche Spaziergänger bietet dieser Verbindungsweg
überflüssigen Raum; am Kirchweihfeste aber würde seine Breite, auch
vierfach genommen, noch immer zu schmal sein für die endlose Menge,
die, heftig nachdrängend und von Rückkehrenden im
entgegengesetzten Sinne durchkreuzt, nur durch die allseitige
Gutmütigkeit der Lustwandelnden sich am Ende doch leidlich
zurechtfindet.
Ich hatte mich dem Zug der Menge hingegeben und befand mich in der
Mitte des Dammes, bereits auf klassischem Boden, nur leider zu stets
erneutem Stillestehen, Ausbeugen und Abwarten genötigt. Da war denn
Zeit genug, das seitwärts am Wege Befindliche zu betrachten. Damit es
nämlich der genußlechzenden Menge nicht an einem Vorschmack der
zu erwartenden Seligkeit mangle, hatten sich links am Abhang der
erhöhten Dammstraße einzelne Musiker aufgestellt, die, wahrscheinlich
die große Konkurrenz scheuend, hier an den Propyläen die Erstlinge
der noch unabgenützten Freigebigkeit einernten wollten. Eine
Harfenspielerin mit widerlich starrenden Augen. Ein alter invalider
Stelzfuß, der auf einem entsetzlichen, offenbar von ihm selbst
verfertigten Instrumente, halb Hackbrett und halb Drehorgel, die
Schmerzen seiner Verwundung dem allgemeinen Mitleid auf eine
analoge Weise empfindbar machen wollte. Ein lahmer, verwachsener
Knabe, er und seine Violine einen einzigen ununterscheidbaren Knäuel
bildend, der endlos fortrollende Walzer mit all der hektischen
Heftigkeit seiner verbildeten Brust herabspielte. Endlich--und er zog
meine ganze Aufmerksamkeit auf sich--ein alter, leicht siebzigjähriger

Mann in einem fadenscheinigen, aber nicht unreinlichen
Molltonüberrock mit lächelnder, sich selbst Beifall gebender Miene.
Barhäuptig und kahlköpfig stand er da, nach Art dieser Leute, den Hut
als Sammelbüchse vor sich auf dem Boden, und so bearbeitete er eine
alte vielzersprungene Violine, wobei er den Takt nicht nur durch
Aufheben und Niedersetzen des Fußes, sondern zugleich durch
übereinstimmende Bewegung des ganzen gebückten Körpers markierte.
Aber all diese Bemühung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war
fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge
von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie. Dabei war er ganz in sein Werk
vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm
befindliche Notenblatt gerichtet ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes
alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden Musiker sich auf ihr
Gedächtnis verließen, hatte der alte Mann mitten in dem Gewühle ein
kleines, leicht tragbares Pult vor sich hingestellt mit schmutzigen,
zergriffenen Noten, die das in schönster Ordnung enthalten mochten,
was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab. Gerade das
Ungewöhnliche dieser Ausrüstung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn
gezogen,
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