Das Leiden eines Knaben | Page 3

Conrad Ferdinand Meyer
da Père Tellier
in jenen Jahren dort Studienpräfekt sein konnte, hat er allerdings, sehr
figürlich gesprochen", spottete der König, "den unbegabten, aber im
Lernen hartnäckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat sich
eben übernommen, wie mir sein Vater, der Marschall, selbst erzählt
hat." Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte etwas
Interessanteres erwartet.
"Den unbegabten Knaben... ", wiederholte der Arzt nachdenklich.
"Ja, Fagon", versetzte der König, "auffallend unbegabt, und dabei
schüchtern und kleinmütig, wie kein Mädchen. Es war an einem
Marly-Tage, dass der Marschall, welchem ich für dieses sein ältestes
Kind die Anwartschaft auf sein Gouvernement gegeben hatte, mir ihn
vorstellte. Ich sah, der schmucke und wohlgebildete Jüngling, über
dessen Lippen schon der erste Flaum sprosste, war bewegt und wollte
mir herzlich danken, aber er geriet in ein so klägliches Stottern und
peinliches Erröten, dass ich, um ihn nur zu beruhigen oder wenigstens
in Ruhe zu lassen, mit einem 'Es ist gut' geschwinder, als mir um seines
Vaters willen lieb war, mich wendete."
"Auch mir ist jener Abend erinnerlich", ergänzte die Marquise. "Die
verewigte Mutter des Knaben war meine Freundin, und ich zog diesen

nach seiner Niederlage zu mir, wo er sich still und traurig, aber dankbar
und liebenswert erwies, ohne, wenigstens äusserlich, die erlittene
Demütigung allzu tief zu empfinden. Er ermutigte sich sogar zu
sprechen, das Alltägliche, das Gewöhnliche, mit einem
herzgewinnenden Ton der Stimme, und--meine Nähe schaffte ihm
Neider. Es war ein schlimmer Tag für das Kind, jener Marly. Ein
Beiname, wie denn am Hofe alles, was nicht Ludwig heisst, den
seinigen tragen muss"--die feinfühlige Marquise wusste, dass ihr
gerades Gegenteil, die brave und schreckliche Pfälzerin, die
Herzogin-Mutter von Orléans, ihr den allergarstigsten gegeben hatte--,
"einer jener gefährlichen Beinamen, die ein Leben vergiften können
und deren Gebrauch ich meinen Mädchen in Saint-Cyr auf strengste
untersagt habe, wurde für den bescheidenen Knaben gefunden, und da
er von Mund zu Munde lief, ohne viel Arg selbst von unschuldigen und
blühenden Lippen gewispert, welche sich wohl dem hübschen jungen
nach wenigen Jahren nicht versagt haben würden."
"Welcher Beiname?" fragte Fagon neugierig.
"'Le bel idiot'... und das Zucken eines Paares hochmütiger Brauen
verriet mir, wer ihn dem Knaben beschert hat."
"Lauzun?" riet der König.
"Saint-Simon", berichtigte die Marquise. "Ist er doch an unserem Hofe
das lauschende Ohr, das spähende Auge, das uns alle beobachtet"--der
König verfinsterte sich--, "und die geübte Hand, die nächtlicherweile
hinter verriegelten Türen von uns allen leidenschaftliche Zerrbilder auf
das Papier wirft! Dieser edle Herzog, Sire, hat es nicht verschmäht, den
unschuldigsten Knaben mit einem seiner grausamen Worte zu zeichnen,
weil ich Harmlose, die er verabscheut, an dem Kinde ein flüchtiges
Wohlgefallen fand und ein gutes Wort an dasselbe wendete." So
züngelte die sanfte Frau und reizte den König, ohne die Stirn zu falten
und den Wohlklang ihrer Stimme zu verlieren.
"Der schöne Stumpfsinnige", wiederholte Fagon langsam. "Nicht übel.
Wenn aber der Herzog, der neben seinen schlimmen auch einige gute
Eigenschaften besitzt, den Knaben gekannt hätte, wie ich ihn
kennenlernte und er mir unvergesslich geblieben ist, meiner Treu! der
gallichte Saint-Simon hätte Reue gefühlt. Und wäre er wie ich bei dem
Ende des Kindes zugegen gewesen, wie es in der Illusion des Fiebers,
den Namen seines Königs auf den Lippen, in das feindliche Feuer zu

stürzen glaubte, der heimliche Höllenrichter unserer Zeit, wenn die
Sage wahr redet, denn niemand hat ihn an seinem Schreibtische
gesehen--hätte den Knaben bewundert und ihm eine Träne
nachgeweint."
"Nichts mehr von Saint-Simon, ich bitte dich, Fagon", sagte der König,
die Brauen zuammenziehend. "Mag er verzeichnen, was ihm als die
Wahrheit erscheint. Werde ich die Schreibtische belauern? Auch die
grosse Geschichte führt ihren Griffel und wird mich in den Grenzen
meiner Zeit und meines Wesens lässlich beurteilen. Nichts mehr von
ihm. Aber viel und alles, was du weisst, von dem jungen Boufflers. Er
mag ein braver Junge gewesen sein. Setze dich und erzähle!" Er deutete
freundlich auf einen Stuhl und lehnte sich in den seinigen zurück.
"Und erzähle hübsch bequem und gelassen, Fagon", bat die Marquise
mit einem Blick auf die schmucken Zeiger ihrer Stockuhr, welche zum
Verwundern schnell vorrückten.
"Sire, ich gehorche", sagte Fagon, "und tue eine untertänige Bitte. Ich
habe heute den Père Tellier in Eurer Gegenwart misshandelnd mir eine
Freiheit genommen und weiss, wie ich mich aus Erfahrung kenne, dass
ich, einmal auf diesen Weg geraten, an demselben Tage leicht
rückfällig werde. Als Frau von Sablière den guten--oder auch nicht
guten--Lafontaine, ihren Fabelbaum, wie sie ihn nannte, aus dem
schlechten Boden, worein er seine Wurzeln gestreckt hatte, ausgrub
und wieder in die gute Gesellschaft verpflanzte, willigte der
Fabeldichter ein, noch einmal unter anständigen Menschen zu leben,
unter der Bedingung jedoch, jeden Abend das Minimum von drei
Freiheiten--was er so Freiheiten hiess--sich erlauben zu dürfen. In
ähnlicher und verschiedener Weise bitte ich mir, soll ich meine
Geschichte erzählen, drei Freiheiten aus... "
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