Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo | Page 5

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erste, den ich
bewußt erlebte.
Ich wußte, daß wir bald weit weg fuhren, in eine große
Stadt, die Berlin hieß. Zuerst flog meine Mutter allein nach
Berlin. Sie wollte sich schon mal um die Wohnung kümmern.
Meine kleine Schwester und ich und mein Vater kamen ein
paar Wochen später nach. Für uns Kinder war das unser erster
Flug. Alles war ungeheuer spannend.
Meine Eltern hatten herrliche Geschichten erzählt von der
riesigen Wohnung mit den sechs großen Zimmern, in der wir
nun wohnen würden. Und viel Geld wollten sie verdienen.
Meine Mutter sagte, dann hätten wir ein großes Zimmer für
uns ganz allein. Sie wollten tolle Möbel kaufen. Sie hat damals
ganz genau erklärt, wie unser Zimmer aussehen sollte. Ich
weiß das noch, weil ich als Kind nie aufgehört habe, mir dieses
Zimmer vorzustellen. Es wurde in meiner Phantasie immer
schöner, je älter ich wurde.
Wie die Wohnung aussah, in die wir dann kamen, habe ich
auch nie vergessen. Wahrscheinlich, weil ich zunächst einen
urischen Horror vor dieser Wohnung hatte. Sie war so groß
und leer, daß ich Angst hatte, mich zu verlaufen. Wenn man
laut sprach, hallte es unheimlich.
Nur in drei Zimmern standen ein paar Möbel. Im Kinder-
zimmer waren zwei Betten und ein alter Küchenschrank mit
unseren Spielsachen. Im zweiten Zimmer war ein Bett für
meine Eltern, und im größten standen eine alte Couch und ein
paar Stühle. So wohnten wir in Berlin-Kreuzberg, am Paul-
Lincke-Ufer.
Nach ein paar Tagen traute ich mich mit dem Fahrrad allein
auf die Straße, weil da Kinder spielten, die etwas älter waren
als ich. In unserem Dorf hatten die Älteren immer auch mit

den Kleinen gespielt und auf sie aufgepaßt. Die Kinder vor
unserer Wohnung sagten gleich: »Was will die denn hier?«
Dann nahmen sie mir das Fahrrad weg. Als ich es zurückbe-
kam, war ein Reifen platt und ein Schutzblech verbogen.
Mein Vater vertrimmte mich, weil das Fahrrad kaputt war.
Ich bin dann nur noch in unseren sechs Zimmern mit dem
Fahrrad gefahren.
Drei Zimmer sollten eigentlich Büro werden. Meine Eltern
wollten da eine Heiratsvermittlung aufmachen. Aber die
Schreibtische und Sessel, von denen meine Eltern sprachen,
kamen nie. Der Küchenschrank blieb im Kinderzimmer.
Eines Tages wurden Sofa, Betten und KüchensChrank auf
ein Lastauto geladen und dann zu einem Hochhaus in der
Gropiusstadt gebracht. Da hatten wir nun zweieinhalb kleine
Zimmer im 11. Stock. Und all die schönen Sachen, von denen
meine Mutter gesprochen hatte, wären in das halbe Kinder-
zimmer gar nicht reingegangen.
Gropiusstadt, das sind Hochhäuser für 45000 Menschen,
dazwischen Rasen und Einkaufszentren. Von weitem sah alles
neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den
Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das
kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in
Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus.
Meine Eltern schimpften auf die Proletenkinder, die das
Treppenhaus verunreinigten. Aber die Proletenkinder konn-
ten meist nichts dafür. Das merkte ich schon, als ich das erste
Mal draußen spielte und plötzlich mußte. Bis endlich der
Fahrstuhl kam und ich im 11. Stockwerk war, hatte ich in die
Hose gemacht. Mein Vater verprügelte mich. Als ich es ein
paarmal nicht geschafft hatte, von unten rechtzeitig in unser
Badezimmer zu kommen, und Prügel bekam, hockte ich mich
auch irgendwo hin, wo mich niemand sah. Da man aus den
Hochhäusern fast in jede Ecke sehen kann, war das Treppen-
haus der sicherste Platz.
Auf der Straße blieb ich auch in Gropiusstadt erst mal das
dumme Kind vom Land. Ich hatte nicht dieselben Spiel-
sachen wie die anderen. Nicht einmal eine Wasserpistole. Ich
war anders angezogen. Ich sprach anders. Und ich kannte die
Spiele nicht, die sie da spielten. Ich mochte sie auch nicht. In
unserem Dorf waren wir oft mit dem Fahrrad in den Wald

gefahren, zu einem Bach mit einer Brücke. Da hatten wir
Dämme gebaut und Wasserburgen. Manchmal alle zusam-
men, manchmal jeder für sich. Und wenn wir es hinterher
wieder kaputtgemacht haben, dann waren wir alle damit
einverstanden und hatten zusammen unseren Spaß. Es gab
auch keinen Anführer bei uns im Dorf. Jeder konnte Vor-
schläge machen, was gespielt werden sollte. Dann wurde
solange rumkrakeelt, bis sich ein Vorschlag durchgesetzt
hatte. Es war gar nichts dabei, wenn die Älteren mal den
Kleinen nachgaben. Es war eine echte Kinder-Demokratie.
In Gropiusstadt, in unserem Block, war ein Junge der Boss.
Er war der Stärkste und hatte die schönste Wasserpistole. Wir
spielten oft Räuberhauptmann. Der Junge war natürlich der
Räuberhauptmann. Und die wichtigste Spielregel war, daß wir
alles zu tun hatten, was er befahl.
Sonst spielten wir mehr gegeneinander als miteinander. Es
ging eigentlich immer darum, den anderen irgendwie zu
ärgern. Zum Beispiel, ihm ein neues Spielzeug wegzunehmen
und kaputt zu machen. Das ganze Spiel war, den anderen
fertigzumachen und für sich selbst Vorteile herauszuschinden,
Macht zu erobern und
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