Bulemanns Haus | Page 9

Theodor W. Storm
hatte.
Diese Gestalt war Herr Bulemann.--Der Hunger hatte ihn nicht getötet,
aber durch den Mangel an Nahrung war sein Leib verdorrt und
eingeschwunden, und so war er im Laufe der Jahre kleiner und kleiner
geworden. Mitunter in Vollmondnächten, wie dieser, war er erwacht
und hatte, wenn auch mit immer schwächerer Kraft, seinen Wächtern
zu entrinnen gesucht. War er von den vergeblichen Anstrengungen
erschöpft aufs Kanapee gesunken oder zuletzt hinaufgekrochen, und
hatte dann der bleierne Schlaf ihn wieder befallen, so streckten Graps
und Schnores sich draußen vor der Treppe hin, peitschten mit ihrem
Schweif den Boden und horchten, ob Frau Ankens Schätze neue
Wanderzüge von Mäusen in das Haus gelockt hätten.
Heute war es anders; die Katzen waren weder im Zimmer noch draußen
auf dem Flur. Als das durch das Fenster fallende Mondlicht über den

Fußboden weg und allmählich an der kleinen Gestalt hinaufrückte,
begann sie sich zu regen; die großen runden Augen öffneten sich, und
Herr Bulemann starrte in das leere Zimmer hinaus. Nach einer Weile
rutschte er, die langen Ärmel mühsam zurückschlagend, von dem
Canapee herab und schritt langsam der Tür zu, während die breite
Schleppe des Schlafrocks hinter ihm herfegte. Auf den Fußspitzen nach
der Klinke greifend, gelang es ihm, die Stubentür zu öffnen und
draußen bis an das Geländer der Treppe vorzuschreiten. Eine Weile
blieb er keuchend stehen; dann streckte er den Kopf vor und bemühte
sich zu rufen: "Frau Anken, Frau Anken!" Aber seine Stimme war nur
wie das Wispern eines kranken Kindes. "Frau Anken, mich hungert; so
hören Sie doch!"
Alles blieb still; nur die Mäuse quieksten jetzt heftig in den unteren
Zimmern.
Da wurde er zornig. "Hexe, verfluchte, was pfeift Sie denn?" Und ein
Schwall unverständlich geflüsterter Schimpfworte sprudelte aus seinem
Mund, bis ein Stickhusten ihn befiel und seine Zunge lähmte.
Draußen, unten an der Haustür, wurde der schwarze Messingklopfer
angeschlagen, daß der Hall bis in die Spitze des Hauses hinaufdrang. Es
mochte jener nächtliche Geselle sein, von dem im Anfang dieser
Geschichte die Rede gewesen ist.
Herr Bulemann hatte sich wieder erholt. "So öffnen Sie doch!" wisperte
er; "es ist der Knabe, der Christoph; er will den Becher holen."
Plötzlich wurden von unten herauf zwischen dem Pfeifen der Mäuse
die Sprünge und das Knurren der beiden großen Katzen vernehmbar. Er
schien sich zu besinnen; zum ersten Mal bei seinem Erwachen hatten
sie das oberste Stockwerk verlassen und ließen ihn gewähren.--Hastig,
den langen Schlafrock nach sich schleppend, stapfte er in das Zimmer
zurück.
Draußen aus der Tiefe der Gasse hörte er den Wächter rufen.
"Ein Mensch, ein Mensch!" murmelte er; "die Nacht ist so lang, so viel
Mal bin ich aufgewacht, und noch immer scheint der Mond."
Er kletterte auf den Polsterstuhl, der in dem Erkerfenster stand. Emsig
arbeitete er mit den kleinen dürren Händen an dem Fensterhaken; denn
drunten auf der mondhellen Gasse hatte er den Wächter stehen sehen.
Aber die Haspen waren festgerostet; er bemühte sich vergebens, sie zu
öffnen. Da sah er den Mann, der eine Weile hinaufgestarrt hatte, in den

Schatten der Häuser zurücktreten.
Ein schwacher Schrei brach aus seinem Mund; zitternd mit geballten
Fäusten schlug er gegen die Fensterscheiben; aber seine Kraft reichte
nicht aus, sie zu zertrümmern. Nun begann er Bitten und
Versprechungen durcheinander zu wispern; allmählich, während die
Gestalt des unten gehenden Mannes sich immer mehr entfernte, wurde
sein Flüstern zu einem erstickten heisern Gekrächze; er wollte seine
Schätze mit ihm teilen, wenn er nur hören wollte; er sollte alles haben,
er selber wollte nichts, gar nichts für sich behalten; nur den Becher, der
sei das Eigentum des kleinen Christoph.
Aber der Mann ging unten unbekümmert seinen Gang, und bald war er
in einer Nebengasse verschwunden.--Von allen Worten, die Herr
Bulemann in jener Nacht gesprochen, ist keines von einer
Menschenseele gehört worden.
Endlich nach aller vergeblichen Anstrengung kauerte sich die kleine
Gestalt auf dem Polsterstuhl zusammen, rückte die Zipfelmütze zurecht
und schaute, unverständliche Worte murmelnd, in den leeren
Nachthimmel hinauf.
Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Bulemanns Haus, von Theodor
Storm.

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Storm
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HAUS ***
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