Bulemanns Haus | Page 8

Theodor W. Storm
verrostete das Schloß, den Messingklopfer
überzog der Grünspan, und zwischen den Treppensteinen begann das
Gras zu wachsen.
Draußen aber ging die Welt unbekümmert ihren Gang. Als der Sommer
gekommen war, stand auf dem St. Magdalenenkirchhof auf dem Grab
des kleinen Christoph ein blühender weißer Rosenbusch; und bald lag
auch ein kleiner Denkstein unter demselben. Den Rosenbusch hatte
seine Mutter ihm gepflanzt; den Stein freilich hatte sie nicht beschaffen
können. Aber Christoph hatte einen Freund gehabt; es war ein junger
Musikus, der Sohn eines Trödlers, der in dem Haus ihnen gegenüber
wohnte. Zuerst hatte er sich unter sein Fenster geschlichen, wenn der
Musiker drinnen am Klavier saß; später hatte dieser ihn zuweilen in die
Magdalenenkirche genommen, wo er sich nachmittags im Orgelspiel zu
üben pflegte.
Da saß denn der blasse Knabe auf einem Schemelchen zu seinen Füßen,
lehnte lauschend den Kopf an die Orgelbank und sah, wie die
Sonnenlichter durch die Kirchenfenster spielten. Wenn der junge
Musikus dann, von der Verarbeitung seines Themas fortgerissen, die
tiefen mächtigen Register durch die Gewölbe brausen ließ, oder wenn
er mitunter den Tremulanten zog und die Töne wie zitternd vor der
Majestät Gottes dahinfluteten, so konnte es wohl geschehen, daß der
Knabe in stilles Schluchzen ausbrach und sein Freund ihn nur schwer
zu beruhigen vermochte. Einmal auch sagte er bittend: "Es tut mir weh,
Leberecht; spiele nicht so laut!"

Der Orgelspieler schob auch sogleich die großen Register wieder ein
und nahm die Flöten- und andere sanfte Stimmen; und süß und
ergreifend schwoll das Lieblingslied des Knaben durch die stille Kirche:
"Befiehl du deine Wege."
Leise mit seiner kränklichen Stimme hub er an mitzusingen. "Ich will
auch spielen lernen", sagte er, als die Orgel schwieg; "willst du mich es
lehren, Leberecht?"
Der junge Musikus ließ seine Hand auf den Kopf des Knaben fallen,
und ihm das gelbe Haar streichelnd, erwiderte er: "Werde nur erst recht
gesund, Christoph; dann will ich dir es gerne lehren."
Aber Christoph war nicht gesund geworden.--Seinem kleinen Sarg
folgte neben der Mutter auch der junge Orgelspieler. Sie sprachen hier
zum ersten Mal zusammen; und die Mutter erzählte ihm jenen dreimal
geträumten Traum von dem kleinen silbernen Erbbecher.
"Den Becher", sagte Leberecht, "hätte ich Euch geben können; mein
Vater, der ihn vor Jahren mit vielen andern Dingen von Euerm Bruder
erhandelte, hat mir das zierliche Stück einmal als Weihnachtsgeschenk
gegeben."
Die Frau brach in die bittersten Klagen aus. "Ach", rief sie immer
wieder, "er wäre ja gewiß gesund geworden!"
Der junge Mann ging eine Weile schweigend neben ihr her. "Den
Becher soll unser Christoph dennoch haben", sagte er endlich.
Und so geschah es. Nach einigen Tagen hatte er den Becher an einen
Sammler solcher Pretiosen um einen guten Preis verhandelt; von dem
Geld aber ließ er den Denkstein für das Grab des kleinen Christoph
machen. Er ließ eine Marmortafel darin einlegen, auf welcher das Bild
des Bechers ausgemeißelt wurde. Darunter standen die Worte
eingegraben: "Zur Gesundheit!"
Noch viele Jahre hindurch, mochte der Schnee auf dem Grab liegen
oder mochte in der Junisonne der Busch mit Rosen überschüttet sein,
kam oft eine blasse Frau und las andächtig und sinnend die beiden
Worte auf dem Grabstein.
Dann eines Sommers ist sie nicht mehr gekommen; aber die Welt ging
unbekümmert ihren Gang.
Nur noch einmal, nach vielen Jahren, hat ein sehr alter Mann das Grab
besucht, er hat sich den kleinen Denkstein angesehen und eine weiße
Rose von dem alten Rosenbusch gebrochen. Das ist der emiritierte

Organist von St. Magdalenen gewesen.
Aber wir müssen das friedliche Kindergrab verlassen und, wenn der
Bericht zu Ende geführt werden soll, drüben in der Stadt noch einen
Blick in das alte Erkerhaus der Düsternstraße werfen.
Noch immer stand es schweigend und verschlossen. Während draußen
das Leben unablässig daran vorüberflutete, wucherte drinnen in den
eingeschlossenen Räumen der Schwamm aus den Dielenritzen, löste
sich der Gips an den Decken und stürzte herab, in einsamen Nächten
ein unheimliches Echo über Flur und Stiege jagend. Die Kinder, welche
an jenem Christabend auf der Straße gesungen hatten, wohnten jetzt als
alte Leute in den Häusern, oder sie hatten ihr Leben schon abgetan und
waren gestorben; die Menschen, die jetzt auf der Gasse gingen, trugen
andere Gewänder, und draußen auf dem Vorstadtskirchhof war der
schwarze Nummerpfahl auf Frau Ankens namenlosen Grab schon
längst verfault. Da schien eines nachts wieder einmal, wie schon so oft,
über das Nachbarhaus hinweg der Vollmond in das Erkerfenster des
dritten Stockwerks und malte mit seinem bläulichen Licht die kleinen
runden Scheiben auf den Fußboden. Das Zimmer war leer; nur auf dem
Kanapee zusammengekauert saß eine kleine Gestalt von der Größe
eines jährigen Kindes, aber das Gesicht war alt und bärtig und die
magere Nase unverhältnismäßig groß; auch trug sie eine weit über die
Ohren fallende Zipfelmütze und einen langen, augenscheinlich für
einen ausgewachsenen Mann bestimmten Schlafrock, auf dessen Schoß
sie die Füße heraufgezogen
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