Belagerung von Mainz | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
Höhe etwas seitwärts außer der Richtung der Kugel
stellte, unter sich dieses wunderliche Gewimmel sah und die Kugel an
sich vorbeisausen hörte.
Aber eine solche über die Schanze weggehende Kugel verfehlte nicht
Zweck noch Absicht. Auf dem Rücken dieser Höhen zog sich der Weg
von Frankfurt her, so daß man die Prozession von Kutschen und
Chaisen, Reitern und Fußgängern aus Mainz sehr gut beobachten und
also zugleich die Schanze und die Wallfahrtenden in Schrecken setzen
konnte. Auch wurde bei einiger Aufmerksamkeit des Militärs der
Eintritt einer solchen Menge gar bald verboten, und die Frankfurter
nahmen einigen Umweg, auf welchem sie unbemerkt und unerreicht in
das Hauptquartier gelangten.
Ende Juni. -- In einer unruhigen Nacht unterhielt ich mich,
aufzuhorchen auf die mannigfaltigen fern und nah erregten Töne, und
konnte folgende genau unterscheiden:
"Werda!" der Schildwache vorm Zelt. "Werda!" der Infanterieposten.
"Werda!", wenn die Runde kam. Hin- und Widergehen der
Schildwache. Geklappere des Säbels auf dem Sporn. Bellen der Hunde
fern. Knurren der Hunde nahe. Krähen der Hähne. Scharren der Pferde.
Schnauben der Pferde. Häckerlingschneiden. Singen, Diskurieren und
Zanken der Leute. Kanonendonner. Brüllen des Rindviehs. Schreien
der Maulesel.
* * * * *

Lücke.
Daß eine solche hier einfällt, möchte wohl kein Wunder sein. Jede
Stunde war unglücksträchtig; man sorgte jeden Augenblick für seinen
verehrten Fürsten, für die liebsten Freunde, man vergaß an eigene
Sicherheit zu denken. Von der wilden, wüsten Gefahr angezogen, wie
von dem Blick einer Klapperschlange, stürzte man sich unberufen in
die tödlichen Räume, ging, ritt durch die Trancheen, ließ die
Haubitzgranten über dem Kopfe dröhnend zerspringen, die Trümmer
neben sich niederstürzen; manchem Schwerblessierten wünschte man
baldige Erlösung von grimmigen Leiden, und die Toten hätte man nicht
ins Leben zurückgerufen.
Wie Verteidiger und Angreifende nunmehr aber gegeneinander standen,
davon wäre im allgemeinen hier so viel zu sagen. Die Franzosen hatten
bei androhender Gefahr sich zeitig vorgesehen und vor die Hauptwerke
hinaus kleinere Schanzen kunstgemäß angelegt, um die Blockierenden
in gewisser Ferne zu halten, die Belagerung aber zu erschweren. Alle
diese Hindernisse mußten nun weggeräumt werden, wenn die dritte
Parallele eröffnet, fortgesetzt und geschlossen werden sollte, wie im
nachfolgenden einzeln aufgezeichnet ist. Wir aber indessen, mit einigen
Freunden, obgleich ohne Ordre und Beruf, begaben uns an die
gefährlichsten Posten. Weißenau war in deutschen Händen, auch die
flußabwärts liegende Schanze schon erobert; man besuchte den
zerstörten Ort, hielt in dem Gebeinhause Nachlese von krankhaften
Knochen, wovon das Beste schon in die Hände der Wundärzte mochte
gelangt sein. Indem nun aber die Kugeln der Karlsschanze immer in die
Überreste der Dächer und Gemäuer schlugen, ließen wir uns durch
einen Mann des dortigen Wachtpostens, gegen ein Trinkgeld, an eine
bekannte bedeutende Stelle führen, wo mit einiger Vorsicht gar vieles
zu übersehen war. Man ging mit Behutsamkeit durch Trümmer und
Trümmer und ward endlich eine stehen gebliebene steinerne
Wendeltreppe hinauf an das Balkonffenster eines freistehenden Giebels
geführt, das freilich in Friedenszeiten dem Besitzer die herrlichste
Aussicht gewährt haben mußte. Hier sah man den Zusammenfluß des
Main- und Rheinstroms, und also die Main- und Rheinspitze, die
Blei-Au, das befestigte Kastel, die Schiffbrücke und am linken Ufer

sodann die herrliche Stadt: zusammengebrochene Turmspitzen,
lückenhafte Dächer, rauchende Stellen untröstlichen Anblicks.
Unser Führer hieß bedächtig sein, nur einzeln um die Fensterpfosten
herumschauen, weil von der Karlsschanze her gleich eine Kugel würde
geflogen kommen, und er Verdruß hätte, solche veranlaßt zu haben.
Nicht zufrieden hiermit schlich man weiter gegen das Nonnenkloster,
wo es freilich auch wild genug aussah, wo unten in den Gewölben für
billiges Geld Wein geschenkt wurde, indes die Kugeln von Zeit zu Zeit
rasselnde Dächer durchlöcherten.
Aber noch weiter trieb der Vorwitz; man kroch in die letzte Schanze
des rechten Flügels, die man unmittelbar über den Ruinen der Favorite
und der Kartause tief ins Glacis der Festung eingegraben hatte und nun
hinter einem Bollwerk von Schanzkörben auf ein paar hundert Schritte
Kanonenkugeln wechselte; wobei es denn freilich darauf ankam, wer
dem andern zuerst Schweigen aufzulegen das Glück hatte.
Hier fand ich es nun, aufrichtig gestanden, heiß genug, und man nahm
sich's nicht übel, wenn irgend eine Anwandlung jenes Kanonenfiebers
sich wieder hervortun wollte; man drückte sich nun zurück, wie man
gekommen war, und kehrte doch, wenn es Gelegenheit und Anlaß gab,
wieder in gleiche Gefahr.
Bedenkt man nun, daß ein solcher Zustand, wo man sich, die Angst zu
übertäuben, jeder Vernichtung aussetzte, bei drei Wochen dauerte, so
wird man uns verzeihen, wenn wir über diese schrecklichen Tage wie
über einen glühenden Boden hinüber zu eilen trachten.
* * * * *
Den 1. Juli war die dritte Parallele in Tätigkeit und sogleich die
Bocksbatterie bombardiert.
Den 2. Juli. Bombardement der Zitadelle und Karlsschanze.
Den 3. Juli. Neuer Brand in der Sankt-Sebastians-Kapelle; benachbarte

Häuser und Paläste gehen in Flammen auf.
Den 6. Juli. Die sogenannte Klubistenschanze, welche den rechten
Flügel der dritten Parallele nicht zustande kommen ließ, mußte
weggenommen werden;
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