Ausgewählte Fabeln | Page 8

Gotthold Ephraim Lessing
ich auch tun."
Und gleich fing sie an, eine Menge toter Spinnen und Fliegen in ihr
Nest zu tragen.
"Aber wozu soll das?" fragte endlich ihre Mutter.
"Wozu? Das ist Vorrat für den bösen Winter, liebe Mutter. Sammle
doch auch! Die Ameisen haben mich diese Vorsicht gelehrt"
"Laß nur die Ameisen!" versetzte die Mutter. "Uns Schwalben hat die
Natur ein schöneres Los bereitet. Wenn der reiche Sommer sich wendet,
dann ziehen wir fort von hier."

Jupiter und das Schaf
Ein Schafweibchen lebte in einer spärlich bewachsenen Gebirgsgegend.
Es mußte viel von anderen Tieren erleiden und war ständig auf der
Flucht vor Feinden. Ein Adler kreiste oft über diesem Gebiet, und das
Schafweibchen war gezwungen, immer wieder ihr kleines Schäfchen zu
verstecken. Auch mußte es achtgeben, daß der Wolf es nicht entdeckte,
denn dieser strolchte auf dem dichtbebuschten Nachbarhügel herum.
Außerdem war es wirklich ein Wunder, daß der Bär aus der waldigen
Schlucht unter ihm es und sein Kind mit seinen riesigen Pranken noch
nicht erwischt hatte.
An einem Sonntag beschloß das Schaf, zum Himmelsgott zu wandern
und ihn um Hilfe zu bitten. Demütig trat es vor Jupiter und schilderte
ihm sein Leid. "Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, daß ich dich
allzu schutzlos geschaffen habe", sprach der Gott freundlich, "darum
will ich dir auch helfen. Aber du mußt selber wählen, was für eine
Waffe ich dir zu deiner Verteidigung geben soll. Willst du vielleicht,
daß ich dein Gebiß mit scharfen Fang- und Reißzähnen ausrüste und

deine Füße mit spitzen Krallen bewaffne?"
Das Schaf schauderte. "O nein, gütiger Vater, ich möchte mit den
wilden, mörderischen Raubtieren nichts gemein haben."
"Soll ich deinen Mund mit Giftwerkzeugen wappnen?" Das Schaf wich
bei dieser Vorstellung einen Schritt zurück. "Bitte nicht, gnädiger
Herrscher, die Giftnattern werden ja überall so sehr gehaßt."
"Nun, was willst du dann haben?" fragte Jupiter geduldig. "Ich könnte
Hörner auf deine Stirn pflanzen, würde dir das gefallen?"
"Auch das bitte nicht", wehrte das Schaf schüchtern ab, "mit meinem
Gehörn könnte ich so streitsüchtig oder gewalttätig werden wie ein
Bock."
"Mein liebes Schaf", belehrte Jupiter sein sanftmütiges Geschöpf,
"wenn du willst, daß andere dir keinen Schaden zufügen, so mußt du
gezwungenerweise selber schaden können."
"Muß ich das?" seufzte das Schaf und wurde nachdenklich. Nach einer
Weile sagte es: "Gütiger Vater, laß mich doch lieber so sein, wie ich
bin. Ich fürchte, daß ich die Waffen nicht nur zur Verteidigung
gebrauchen würde, sondern daß mit der Kraft und den Waffen zugleich
auch die Lust zum Angriff erwacht."
Jupiter warf einen liebevollen Blick auf das Schaf, und es trabte in das
Gebirge zurück. Von dieser Stunde an klagte das Schaf nie mehr über
sein Schicksal.

Merops
"Ich muß dich doch etwas fragen", sprach ein junger Adler zu einem
tiefsinnigen grundgelehrten Uhu. "Man sagt, es gäbe einen Vogel mit
Namen Merops, der, wenn er in die Luft steige, mit dem Schwanze
voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt, fliege. Ist das wahr?"
"Ei nicht doch!" antwortete der Uhu; "das ist eine alberne Erdichtung
des Menschen. Er mag selbst ein solcher Merops sein, weil er nur gar
zu gern den Himmel erfliegen möchte, ohne die Erde auch nur einen
Augenblick aus dem Gesichte zu verlieren."

Minerva
Laß sie doch, Freund! laß sie, die kleinen hämischen Neider deines
wachsenden Ruhmes! Warum will dein Witz ihre der Vergessenheit

bestimmte Namen verewigen?
In dem unsinnigen Kriege, welchen die Riesen wider die Götter führten,
stellten die Riesen der Minerva einen schrecklichen Drachen entgegen.
Minerva aber ergriff den Drachen und schleuderte ihn mit gewaltiger
Hand an das Firmament. Da glänzt er noch, und was so oft großer
Taten Belohnung war, ward des Drachens beneidenswürdige Strafe.

Zeus und das Pferd
"Vater der Tiere und Menschen", so sprach das Pferd und nahte sich
dem Throne des Zeus, "man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe,
womit du die Welt geziert, und meine Eigenliebe heißt es mich glauben.
Aber sollte gleichwohl nicht noch verschiedenes an mit zu bessern
sein?" "Und was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede, ich
nehme Lehre an", sprach der gute Gott und lächelte.
"Vielleicht", sprach das Pferd weiter, "würde ich flüchtiger sein, wenn
meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals
würde mich nicht verstellen; eine breitere Brust wurde meine Stärke
vermehren; und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen
Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel
anerschaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt."
"Gut", versetzte Zeus, "gedulde dich einen Augenblick!" Zeus, mit
ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in
den Staub, da verband sich organisierter Stoff; und plötzlich stand vor
dem Throne--das häßliche Kamel.
Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.
"Hier sind höhere und mächtigere Beine", sprach Zeus; "hier ist ein
langer Schwanenhals; hier ist eine breite Brust;
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